Europa muss handlungsfähig sein

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Zukunft Europas Europa muss handlungsfähig sein

Wie kann Europa wirtschaftlich stark und innovativ bleiben? Wie können die EU-Außengrenzen geschützt werden? Und wie steht es um eine gemeinsame Asylpolitik? Die Bundeskanzlerin nimmt im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu zentralen europäischen Fragen Stellung.

  • Interview mit Angela Merkel
  • Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Bundeskanzlerin Angela Merkel

"Europa ist nicht nur ein Friedens-, sondern auch ein Sicherheitsversprechen."

Foto: Imo/photothek.net

Das Interview im Wortlaut:

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS): Wir wollen über Europa reden – und müssen mit Italien beginnen. Dort regieren nun Populisten von links und rechts gemeinsam, deren Führer den Euro wiederholt in Frage gestellt haben. Bereitet Ihnen das Sorgen, Frau Bundeskanzlerin?

Angela Merkel: Ich werde offen auf die neue italienische Regierung zugehen und mit ihr arbeiten, anstatt über ihre Absichten zu spekulieren. Deutschland hat ein elementares Interesse an einem handlungsfähigen Europa.

FAS: Es kommen sehr scharfe Töne aus dem Land. Der Lega-Vorsitzende Salvini sagte gerade, Italiener seien nicht die Sklaven Deutschlands und Frankreichs. Es wird mit dem Feindbild Deutschland mobilisiert. Wie erklären Sie sich das?

Merkel: Meine Erfahrung sagt mir: Es ist für alle besser, wenn wir uns auf Gespräche in der Sache konzentrieren. Dabei hat natürlich jeder seine eigenen Interessen. Aber im Gespräch haben wir bislang immer wieder Lösungen gefunden, die für alle vertretbar waren.

FAS: Gehört die Auseinandersetzung über die Mitgliedschaft im Euro zu einer lebendigen Demokratie? Oder sollte eine so fundamentale Frage dem Wahlkampf entzogen sein?

Merkel: In der Politik wird über das gesprochen, was den Menschen wichtig ist. Auch bei uns hat es in der Vergangenheit Debatten über den Euro gegeben. Und auch heute reden wir immer wieder über die Regeln, die untrennbar mit dem Euro verbunden sind, die Erfüllung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Jeder Mitgliedstaat hat eine hohe Eigenverantwortung, aber die gemeinsame Währung ist eben auch im Interesse aller. Und deshalb haben wir uns, als das Währungssystem in Gefahr geriet, zur Solidarität verpflichtet.

Solidarität unter Europartnern darf aber nie in eine Schuldenunion münden, sondern muss Hilfe zur Selbsthilfe sein. Immerhin haben wir jetzt in der Eurozone eine Situation, wie es sie lange nicht gab: In allen Staaten wächst die Wirtschaft und nimmt die Beschäftigung zu. Trotzdem ist die Jugendarbeitslosigkeit in Italien immer noch erschreckend hoch. Ich bin gerne bereit, mit der neuen italienischen Regierung darüber zu sprechen, wie mehr junge Menschen Arbeit finden können.

FAS: Warum reagieren Sie so gelassen auf die Veränderungen in Italien?

Merkel: Es ist meine grundsätzliche Überzeugung, dass jedes Wahlergebnis und jede demokratisch gewählte Regierung Respekt verdienen. Je respektvoller wir miteinander umgehen und unsere wechselseitigen Interessen berücksichtigen, desto besser. So haben wir auch in dem Konflikt, den wir mit Griechenland über die notwendigen Reformen hatten, eine tragfähige Lösung gefunden.

FAS: Müssen wir nun noch enger mit Frankreich zusammenarbeiten, damit wenigstens der deutsch-französische Motor Europa voranbringen kann?

Merkel: Deutschland und Frankreich können an vielen Stellen Anstöße geben, aber handeln müssen am Ende alle gemeinsam in der Europäischen Union. Es ist schmerzlich genug, dass Großbritannien die EU verlässt. Wir stehen vor umfassenden Problemen, weil sich die gesamte Weltordnung ändert. Wir erleben, dass nach der Bipolarität des Kalten Krieges die Welt multipolar wird. Amerika ist und bleibt Supermacht, bekennt sich im Augenblick aber nicht in allen Bereichen zu den multilateralen Vereinbarungen, wie sich nach dem Ausstieg aus dem Klimaabkommen nun auch an den Strafzöllen zeigt, die Präsident Trump gegen Europa verhängt hat.

FAS: Nicht nur Amerika macht es Europa schwer.

Merkel: China wird wirtschaftlich immer stärker und hat zunehmend globalen Einfluss. Das alles bedeutet für uns Europäer, dass wir unsere Stellung im globalen Gefüge neu definieren müssen, dass wir uns als gemeinsam handelnder globaler Akteur einbringen müssen. Vor einem Jahr habe ich in Trudering gesagt, dass wir unser Schicksal mehr in die eigene Hand nehmen müssen. Das hat auch Emmanuel Macron in seiner Sorbonne-Rede zum Ausdruck gebracht.

Europa muss nach außen und innen handlungsfähig sein, um mit seiner Stimme in der Welt ernst genommen zu werden. Europa hat für seine Bürger nicht nur ein Friedens-, sondern auch ein Sicherheitsversprechen bedeutet, und das müssen wir erneuern. Ich meine das im ganz umfassenden Sinn, im Blick auf unsere Grundüberzeugungen: Demokratie, Rechtsstaat, Menschenwürde, im Blick auf Sicherheit vor Terrorismus, im Blick auf Sicherheit für Wohlstand und Arbeitsplätze, auf den Schutz der Außengrenzen, die Bewahrung unserer kulturellen Identität und der gemeinsamen Schöpfung.

FAS: Macron hat kurz nach der Bundestagswahl seine Vorstellungen für die Zukunft Europas genannt. Seitdem wartet er auf eine konkrete Antwort von Ihnen, gerade auch in finanzieller Hinsicht. Welche seiner Wünsche können Sie denn erfüllen?

Merkel: Für mich steht im Vordergrund, dass neben einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik und einer gemeinsamen Asyl- und Entwicklungspolitik Europa wirtschaftlich stark und innovativ bleibt. So haben wir jüngst eine deutsch-französische Initiative im Hinblick auf disruptive Innovationen eingebracht, also solche Innovationen, die bisherige Technologien ersetzen oder verdrängen und ganz neue Geschäftsmodelle schaffen. Bei solchen disruptiven Innovationen muss Europa schneller handeln.

Für ein erfolgreiches Wirtschaften müssen wir den Euro nachhaltig stabilisieren. Die bisherigen Instrumente reichen noch nicht aus, deshalb brauchen wir die Banken- und Kapitalmarktunion. Wir wollen uns auch ein Stück weit vom Internationalen Währungsfonds unabhängig machen. Aus dem Europäischen Stabilisierungsmechanismus ESM, den wir in der Krise geschaffen haben, soll ein Europäischer Währungsfonds werden, ein EWF – und zwar mit Instrumenten, wie sie auch der IWF hat.

FAS: Wie genau stellen Sie sich das vor?

Merkel: Wenn die gesamte Eurozone in Gefahr ist, muss der EWF wie bisher langfristige Kredite vergeben können, um Ländern zu helfen. Da geht es um Kredite, die auf dreißig Jahre angelegt und mit der Auflage weitreichender Strukturreformen verbunden sind. Daneben kann ich mir zusätzlich die Möglichkeit einer Kreditlinie vorstellen, die kürzere Laufzeiten hat, zum Beispiel fünf Jahre. Damit könnten wir Ländern, die durch äußere Umstände in Schwierigkeiten geraten, unter die Arme greifen. Immer gegen Auflagen natürlich, in begrenzter Höhe und mit vollständiger Rückzahlung. Ein EWF mit solchen Kompetenzen muss natürlich die volkswirtschaftliche Lage in allen Mitgliedsländern aus eigener Kompetenz beurteilen können. Darüber hinaus sollte er die Schuldentragfähigkeit der Mitgliedstaaten bewerten und über geeignete Instrumente verfügen, diese, falls notwendig, auch wiederherzustellen. Der EWF soll zwischenstaatlich organisiert sein – mit den entsprechenden Rechten der nationalen Parlamente. Er soll gemeinsam mit der EU-Kommission, die schon jetzt regelmäßig die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten und die Einhaltung des Stabilitätspakts überprüft, die beiden Säulen für die Stabilität der Eurozone bilden.

FAS: Bleibt ein Punkt, der Macron besonders wichtig ist: Wie können die Staaten der Eurozone mit ihren großen wirtschaftlichen Unterschieden einander angeglichen werden?

Merkel: Wir brauchen in der Eurozone eine schnellere wirtschaftliche Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten. Dafür müssen wir die Innovationsfähigkeit stärken, und zwar mit Hilfe zusätzlicher Strukturpolitik. Wir müssen überlegen, wie wir Länder besser einbeziehen können, die bei Wissenschaft, Technologie und Innovation Nachholbedarf haben. Wir haben deshalb im Koalitionsvertrag einen Investivhaushalt für die Eurozone vorgeschlagen, und ich bekenne mich dazu. Klären müssen wir noch, ob dieses zusätzliche Budget innerhalb oder außerhalb des EU-Haushalts verwaltet werden soll.

FAS: Wie ist es Ihnen lieber? Und wie viel Geld wollen Sie dafür zusätzlich aufwenden?

Merkel: Das wird im unteren zweistelligen Milliardenbereich liegen, und wir werden es sicher schrittweise einführen und dann die Wirkungen evaluieren. Wir müssen darüber reden, wie wir solche Mittel am wirksamsten einsetzen und wie solche Ausgaben parlamentarisch kontrolliert werden können.

FAS: Die EU-Kommission will in ihrer nächsten Haushaltsperiode, also von 2021 bis 2027, die Mitgliedstaaten mit 25 Milliarden Euro bei Strukturreformen unterstützen. Außerdem will sie 30 Milliarden Euro als Darlehen mit vergünstigten Zinsen zur Verfügung stellen, damit Länder, die in wirtschaftliche Turbulenzen geraten, weiter in ihre Zukunft investieren können. Sie selbst haben derlei vor einigen Jahren angeregt.

Merkel: Mein Vorschlag war damals ein zusätzliches Budget, um Staaten bei Reformen zu unterstützen. Und ich finde den Vorschlag immer noch gut. Dabei sollten wir auch Strukturschwächen in Ländern angehen, die nicht in akuten Schwierigkeiten stecken. Ein Beispiel: Bei der Künstlichen Intelligenz sind Deutschland, Frankreich und die baltischen Staaten zum Beispiel besser aufgestellt, da sollten wir dann also eher in den Ländern investieren, die noch Nachholbedarf haben. Damit wird die Konvergenz der Eurozone verbessert. Genau dies ließe sich mit einem Investivhaushalt verwirklichen.

FAS: Die EU-Kommission dringt darauf, dass alle diese Fragen in den nächsten Monaten geklärt werden, damit der nächste Finanzrahmen noch vor der Europawahl im nächsten Jahr beschlossen werden kann. Wollen Sie das auch?

Merkel: Ich kenne die Schwierigkeiten und Risiken, plädiere aber dafür, dass wir die Kraftanstrengung unternehmen und über den nächsten Finanzrahmen noch vor der Europawahl entscheiden. In den heutigen unsicheren Zeiten muss Europa zu jedem Zeitpunkt handlungsfähig sein. Wenn wir die Beratungen auf die lange Bank schieben, könnte es sein, dass wir ein ganzes Jahr lang keine Erasmus-Stipendien vergeben oder sich der Ausbau von Frontex verzögert oder wichtige Projekte der Bekämpfung von Fluchtursachen nicht durchgeführt werden können, ganz zu schweigen von Strukturfondsmitteln und den wichtigen Forschungsprogrammen. Deshalb brauchen wir den Haushalt für die Zeit nach 2021 vor der Europawahl.

FAS: Und Sie erwarten, dass da alle Staaten mitziehen?

Merkel: Ich werbe dafür, weil die Handlungsfähigkeit Europas für mich entscheidend ist. Der Austritt Großbritanniens bringt schon genug Unsicherheit. Wir sollten das jetzt in einem Zug klären: wie der künftige Haushalt der ganzen EU aussehen soll und wie die Struktur der Eurozone gestaltet ist.

FAS: Das wird dann ganz schön teuer für Deutschland. Günther Oettinger, Ihr Parteifreund und EU-Haushaltskommissar, spricht von bis zu zwölf Milliarden Euro mehr im Jahr. Sind Sie dazu bereit?

Merkel: Wir haben im Koalitionsvertrag verabredet, dass wir bereit sind, mehr in einen zukünftigen Haushalt zu zahlen. Das Mehr ist immer relativ. Wenn wir 1 Prozent des Bruttosozialprodukts der EU-Staaten im Jahr 2021 für die Union aufwenden, ist das in absoluten Zahlen mehr Geld als 2013 – denn unsere Wirtschaftsleistung ist ja deutlich höher. Aber vor allem müssen wir fragen: Welche Aufgaben müssen in Europa gelöst werden? Die Vorstellungen der EU-Kommission gehen allerdings sehr weit.

FAS: Die Kommission schlägt 1,11 Prozent vor, das sind 127 Milliarden Euro mehr für sieben Jahre als bei 1 Prozent.

Merkel: Wir haben großes Interesse daran, dass unsere strukturschwachen Regionen weiter aus Brüssel gefördert werden und dass wir die Zukunftsaufgaben stärker im Haushalt berücksichtigen als bisher. Das bedeutet Umschichtungen und zum Teil auch neue Herangehensweisen. In der Agrarpolitik sehe ich zum Beispiel die dringende Notwendigkeit, Bürokratie abzubauen. Im Übrigen wird ja nicht nur Deutschland mehr zum Haushalt beitragen, sondern das gilt für alle Nettozahler.

FAS: Was viele aber ablehnen. Die Niederlande und Österreich wollen ihre Beiträge zum EU-Haushalt auf dem heutigen Niveau einfrieren, also bei 1Prozent der EU-Wirtschaftsleistung. Das heißt: Wenn die Briten ausgeschieden sind, wird der Kuchen kleiner, die Union muss sparen. Wie wollen Sie die Gegner höherer Zahlungen in der Kürze der Zeit überzeugen?

Merkel: Auch der deutsche Finanzminister hat 1 Prozent als Ausgangsposition genannt. Es ist immer gut, wenn die Nettozahler mit einer gemeinsamen Position starten. Wir müssen nun schauen, was von den Beiträgen jeweils in die Agrarpolitik, die Strukturfonds, die Forschungspolitik und die neuen Aufgaben wie zum Beispiel Frontex fließt. Wenn man darüber in einem guten Geist verhandelt, dann wird man auch Lösungen finden. Ich kann mich gut an die letzten Haushaltsverhandlungen erinnern. Da hat mancher gesagt, es gehe überhaupt nicht, und zum Schluss haben wir einen Haushalt hinbekommen, mit dem wir eigentlich heute gut zurechtkommen.

FAS: Als zentrale Aufgabe haben Sie die Sicherung der EU-Außengrenzen genannt. Wie wollen Sie da weiterkommen?

Merkel: Wir haben gerade den Riesenschritt hin zur sogenannten Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit in der EU-Verteidigungspolitik geschafft, etwas, das viele Jahre lang nicht möglich schien. Nun sehe ich die Themen Grenzsicherung, gemeinsame Asylpolitik und Bekämpfung der Fluchtursachen als wirkliche Existenzfragen für Europa.

FAS: Warum?

Merkel: Die Freizügigkeit innerhalb Europas ist konstitutiv für den Binnenmarkt, von dem wir alle enormen Nutzen haben. Diese Freizügigkeit beruht aber auf dem Schutz der EU-Außengrenzen. Wenn nicht alle Mitgliedstaaten Vertrauen in den Schutz dieser Außengrenzen und in die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn an den europäischen Außengrenzen haben, dann wird Europa wieder zurückfallen in die Zeit vor Schengen, mit schweren Rückwirkungen auf unseren Wohlstand. Deshalb ist das eine Existenzfrage. Ein Teil der Verunsicherung in Italien hat seinen Ursprung darin, dass die Italiener sich nach dem Zusammenbruch Libyens alleingelassen fühlen mit der Aufgabe, die vielen Flüchtlinge und Migranten aus Afrika aufzunehmen.

FAS: Reicht ein besserer Grenzschutz?

Merkel: Wir brauchen ein gemeinsames Asylsystem und vergleichbare Maßstäbe bei der Entscheidung, wer Asyl bekommt und wer nicht. Wir erleben ja, dass Bürger ein und desselben Herkunftslandes in Deutschland und in Frankreich ganz unterschiedliche Aussichten haben, einen Aufenthaltsstatus zu bekommen. Deshalb brauchen wir vergleichbare Asylstandards in Europa. Wir brauchen einheitliche Verfahren an den europäischen Außengrenzen. Und die europäische Grenzschutzagentur Frontex muss mittelfristig eine echte europäische Grenzpolizei mit europäischen Kompetenzen werden. Das heißt, die europäische Grenzpolizei muss das Recht haben, an den Außengrenzen eigenständig zu agieren.

FAS: Haben wir das richtig verstanden: Sie wollen eine gemeinsame Flüchtlingsbehörde für die EU? Eine Art europäisches Bamf?

Merkel: In der Endausbaustufe brauchen wir eine gemeinsame europäische Flüchtlingsbehörde, die an den Außengrenzen alle Asylverfahren durchführt, auf der Grundlage eines einheitlichen europäischen Asylrechts.

FAS: Dann muss es aber eine Zuweisung geben. Wenn jemand einen Aufenthaltstitel in Europa bekommt, muss man ihm sagen, ob er nach Bochum oder Bordeaux gehen soll. Oder soll er sich das selbst aussuchen?

Merkel: Wir setzen uns ja deshalb für mehr Solidarität im neuen Gemeinsamen Europäischen Asylsystem ein. Jeder Mitgliedstaat muss seinen Beitrag leisten. Aber vor allem müssen wir illegale Migration von vornherein reduzieren. Dazu wollen wir vor allem mit Transitländern Vereinbarungen über die Bekämpfung der illegalen Migration schließen. Mit den Herkunftsländern sprechen wir darüber, wie wir Menschen ohne Aufenthaltsrecht in Europa besser in ihre Heimat zurückführen können, und im Gegenzug wollen wir legale Formen der Migration fördern können, insbesondere zu Studium oder Ausbildung beziehungsweise im Rahmen der Fachkräftezuwanderung.

FAS: Also: Grenzschutz einerseits, Öffnung für legale Einwanderung andererseits?

Merkel: Unser Ziel sind geordnete Verhältnisse an den Außengrenzen, aber Abschottung ist nicht der richtige Weg. Wir brauchen einen intelligenten Ansatz auf mehreren Ebenen. Unsere Datensysteme müssen in ganz Europa vernetzt werden, damit wir wissen, wer sich bei uns aufhält. Wir müssen mit den Ländern rings um die EU zusammenarbeiten. Ich erinnere an die Erklärung der EU mit der Türkei, an unsere Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Staaten und mit Niger. Aber vor allem geht es um mehr Entwicklungsmöglichkeiten für Menschen in den Herkunftsländern. Nur Perspektiven für die jungen Menschen in diesen Ländern werden dauerhaft helfen. Deshalb arbeiten wir an einem Marshallplan für Afrika.

FAS: Und wie sollen die EU-Staaten all diese Aufgaben stemmen?

Merkel: Es soll ein flexibles System der Aufgabenverteilung sein, in dem jedes Land eigene, aber auch vergleichbare Beiträge zu der gemeinsamen Aufgabe leistet. Ich kenne kein einziges Mitgliedsland, das sagt: Wir nehmen an keiner dieser Aufgaben teil. Strittig ist in manchen Ländern die dauerhafte Aufnahme von Flüchtlingen. Dennoch habe ich die Hoffnung, dass wir mit hoher Flexibilität die derzeitige Blockade in der europäischen Asylpolitik überwinden können.

FAS: Kurz vor der Bundestagswahl sagten Sie uns, die Verteilung von Migranten werde erst gelingen, wenn die Grenzen wirksam geschützt seien, es eine Entwicklungspartnerschaft mit Afrika gebe und den Schleppern das Handwerk gelegt sei. Nun liegt das Thema Quote beim nächsten EU-Gipfel Ende Juni auf dem Tisch. Es zeichnet sich die Notwendigkeit einer Mehrheitsentscheidung ab, weil die vier Visegrád-Staaten, möglicherweise auch Italien, zu einem Kompromiss nicht bereit sind. Welchen Kurs schlagen Sie ein?

Merkel: Ich gehöre ja als Bundeskanzlerin dem Europäischen Rat an, in dem immer einstimmig entschieden werden muss. Deshalb stellt sich die Frage von Mehrheitsentscheidungen dort nicht. Eine Befriedung in dieser Frage muss sicherlich über den Europäischen Rat vorbereitet sein. Wir arbeiten mit Hochdruck an einer Einigung in der Asylpolitik, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir das bis zum Europäischen Rat Ende dieses Monats schon schaffen.

FAS: Also lieber langsam und im Konsens als zu schnell?

Merkel: Als wir mit Mehrheitsentscheidung 2015 eine Quote zur Verteilung von 160.000 Flüchtlingen beschlossen haben, hat das nicht zu einer politischen Befriedung geführt. Deshalb glaube ich, dass wir lieber ein paar Wochen länger versuchen sollten, eine gemeinsame Lösung zu finden, weil es ein so wichtiges Thema für die Europäische Union ist.

FAS: Sie haben Sicherheit als weitere Priorität genannt. Präsident Macron will außerhalb der EU-Strukturen eine Interventionstruppe für anspruchsvolle Auslandseinsätze aufbauen. Im Koalitionsvertrag steht dazu nichts. Was antworten Sie ihm?

Merkel: Ich stehe Präsident Macrons Vorschlag einer Interventionsinitiative positiv gegenüber. Eine solche Interventionstruppe mit einer gemeinsamen militärstrategischen Kultur muss aber in die Struktur der verteidigungspolitischen Zusammenarbeit eingepasst sein. Die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung ist sehr wichtig. Wir müssen von den 180 Waffensystemen, die derzeit in Europa nebeneinander bestehen, auf eine Situation wie die der Vereinigten Staaten kommen, wo man nur etwa 30 Waffensysteme hat. Das wird die Ausbildung und die Bedienung erleichtern. Damit entwickeln wir ja schon mehr europäische Gemeinsamkeit. Die muss dann durch gemeinsames strategisches Handeln im Einsatz ergänzt werden. Die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im EU-Rahmen und eine gemeinsame militärstrategische Kultur in Europa gehören für mich daher eng zusammen. Wir können ja eine solche Initiative für ein Land wie Großbritannien zusätzlich öffnen.

FAS: Die Bundeswehr wäre dann bei allem dabei?

Merkel: Im Rahmen der Möglichkeiten einer Parlamentsarmee muss die Bundeswehr grundsätzlich Teil einer solchen Initiative sein. Das bedeutet ja nicht, dass wir bei jedem Einsatz dabei sind.

FAS: Bei der Intervention in Libyen 2011 und kürzlich beim Angriff in Syrien haben die Franzosen lieber schnell gehandelt, mit Briten und Amerikanern, als sich mit weiteren Partnern abzustimmen. Das scheint die französische Einsatzkultur zu sein.

Merkel: Wer gemeinsam mit Partnern handeln möchte, muss auch gemeinsam entscheiden. Deutschland ist in den letzten Jahren schon einige für uns ungewöhnliche Schritte gegangen: Bundeswehrsoldaten sind auf französische Bitte in Mali und bilden dort Soldaten aus. Wir helfen im Irak, die jeweiligen Streitkräfte auszubilden. Wir müssen und werden auch in Zukunft auf die Herausforderungen reagieren, die sich uns stellen.

FAS: An wie viel Personal denken Sie? Wie viel darf die Sache kosten?

Merkel: Jetzt geht es erst einmal um die Grundsatzentscheidung.

FAS: Im deutschen Verteidigungshaushalt ist dafür nichts eingeplant. Was nutzt eine Interventionsinitiative, wenn die Bundeswehr dafür gar nicht ausgerüstet ist?

Merkel: Es gibt für die Zusammenarbeit im europäischen Rahmen einen Verteidigungsfonds. Der könnte auch für solche Einsätze genutzt werden.

FAS: Sie brauchen zum Beispiel mehr Hubschrauber und Personal, das interventionsfähig ist.

Merkel: Dazu wird jedes Land seinen Beitrag leisten, das geschieht ja auch schon heute im Rahmen unserer Zusammenarbeit in der Nato.

FAS: Macron will eine Interventionstruppe auch deshalb aus den EU-Strukturen heraushalten, weil er fürchtet, dass die zu umständlich und zu langsam sind. Sind Sie denn grundsätzlich mit den Strukturen der Europäischen Union zufrieden?

Merkel: In unseren Entscheidungsstrukturen in Europa sind Veränderungen erforderlich. Vor allem in der Außenpolitik brauchen wir sehr viel mehr Gemeinsamkeit. Ich schlage vor, dass wir mittelfristig die nichtständigen Sitze der EU-Mitglieder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu europäischen Sitzen entwickeln. Wir sollten also untereinander und mit Frankreich – dem nach dem Austritt Großbritanniens einzigen verbleibenden EU-Mitglied mit ständigem Sitz – als Europäer gemeinsam handeln. Zusätzlich könnte ich mir einen europäischen Sicherheitsrat vorstellen, der aus einem Teil der EU-Staaten besteht. Die Mitgliedschaft würde rotieren; der EU-Sicherheitsrat könnte schneller agieren, würde sich eng mit der Hohen EU-Beauftragten für die Außenpolitik abstimmen sowie mit unseren europäischen Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat. Das würde unsere Handlungsfähigkeit stärken.

FAS: Kann die EU-Kommission so bleiben, wie sie ist?

Merkel: Wir sollten weniger Kommissare als bisher haben, so sah es ja schon der Lissabon-Vertrag vor. Auch große Länder müssten bereit sein, in einem Rotationsverfahren einmal auf einen Kommissar zu verzichten. Auch das würde die Handlungsfähigkeit der Union verbessern.

FAS: Wie ist es mit dem Europäischen Parlament?

Merkel: Die Aufstellung von europäischen Spitzenkandidaten hat sich etabliert. Doch auf Dauer wird das nur funktionieren, wenn der Spitzenkandidat auf einer transnationalen Liste steht, also wirklich in allen Ländern gewählt werden kann. Nur dann ist er nämlich nicht davon abhängig, dass ihn am Ende auch die Regierung seines Heimatlandes für das Amt des Kommissionspräsidenten nominiert. Es kann schließlich sein, dass der Gewinner der Europawahl einer anderen Partei angehört als sein Regierungschef daheim – dann wird es schwierig.

FAS: Wo soll die EU in den nächsten fünf oder zehn Jahren stehen?

Merkel: Mein Ziel ist es, dass man in der Welt weiß: Europa agiert außenpolitisch mit einer Stimme. Europa soll sich als wirtschaftsstarker Kontinent präsentieren, der bei den Innovationen, die entscheidend für unseren Wohlstand sind, an der Spitze steht. Europa soll wahrgenommen werden als starke Stimme im Konzert der globalen Akteure, wenn es um die Bewahrung der Schöpfung und den Klimaschutz geht. Es soll klar sein, dass wir wertegebunden handeln und uns an den Menschenrechten orientieren, dass wir die Kraft sind, die den Multilateralismus stärkt.

Die Fragen stellten Thomas Gutschker und Eckart Lohse für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung .