Kanzler Scholz im Interview mit dem Handelsblatt
Bundeskanzler Olaf Scholz hat beim Ada Lovelace Festival mit dem Handelsblatt über die guten und schlechten Seiten des Internets gesprochen, die Chancen und Risken für die Demokratie – und darüber, auf welches Gerät er nie mehr verzichten würde.
- Interview mit Bundeskanzler Olaf Scholz
- Handelsblatt
Herr Bundeskanzler, welche Bedeutung hat aus Ihrer Sicht das Internet?
Bundeskanzler Olaf Scholz: Natürlich ist die Bedeutung groß, weil neben dem Handel und der Produktion inzwischen ein wesentlicher Teil der Kommunikation digital stattfindet – was aber nicht heißen soll, dass ich nicht auch Zeitungen oder Magazine auf Papier lese.
Ist das Internet für Sie ein technisches Tool oder eine neue Form der Zivilisation?
Scholz: In dieser Frage werbe ich für Pragmatismus und betrachte das Internet lieber als Tool. Wir sollten dessen Möglichkeiten nutzen, aber nicht zu beeindruckt sein. Natürlich hat das Netz unser Zusammenleben und unsere Kommunikation verändert. Und daraus ergeben sich wiederum Aufgaben für die Politik. Dinge, die im realen Leben verboten sind, können im Internet nicht plötzlich erlaubt sein. Da müssen wir für entsprechende Regeln sorgen.
Amerikaner würden jetzt sagen: Regeln verhindern Innovationen.
Scholz: Da bin ich anderer Meinung. In vielen Bereichen des Lebens entstehen neue Möglichkeiten erst daraus, dass es Regeln gibt. Mobilität im Straßenverkehr würde ohne Regeln niemals funktionieren. Für das Internet gilt dasselbe.
Was ist für Sie denn das Beste am Internet?
Scholz: Die Demokratisierung. Viele Menschen finden dadurch eine Öffentlichkeit, können sich Informationen beschaffen und mit der ganzen Welt austauschen.
Und was ist für Sie das Schlechteste?
Scholz: Mich sorgt vor allem die Rückkehr des Vorurteils. Wenn wir in allem sortiert werden, wenn uns der Algorithmus Freunde oder Gesprächspartner vorschlägt, ist das zwar bequem, erweitert aber nicht den Horizont. Wir alle brauchen Neues, Überraschendes, Herausforderndes. Ansonsten verstärken sich Vorurteile, die im normalen Alltag vielleicht durch Auseinandersetzung geschliffen worden wären – und das leistet beispielsweise Rassismus, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit Vorschub.
Wie schaffen Sie es denn, weiterhin divers zu denken?
Scholz: Ich bleibe neugierig. Ich lese beispielsweise Zeitungen komplett, also nicht nur die Teile, die direkt für meine Arbeit erforderlich sind. Und mein Amt bringt das Privileg mit sich, dass ich sehr viele direkte Begegnungen habe – Landwirte auf ihren Höfen, Arbeiter in der Fabrik, Ärztinnen im Krankenhaus. Diese Gespräche erweitern den Horizont beträchtlich.
Manche Menschen sagen: Ohne soziale Medien hätte es den Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 nicht gegeben. Wie sehen Sie das?
Scholz: Das ist schlimm, was da passiert ist. Offensichtlich haben sich an diesem Tag viele Menschen zusammengetan, die vorher überwiegend in den sozialen Medien kommuniziert und sich gegenseitig in ihrer Meinung bestärkt hatten. Deshalb ist es unsere gemeinsame Aufgabe, für eine Öffentlichkeit einzutreten, in der es Gespräche gibt, in der es verschiedene Meinungen und auch Widerspruch gibt. Es braucht auch Gesprächspartner, die einem bei allzu schrägen Ansichten mal sagen: „Du hast sie wohl nicht alle.“
Der „Economist“ hat soeben berichtet, die amerikanische Gesellschaft sei so gespalten wie nie. Wie besorgt sind Sie um die Demokratie?
Scholz: Wir sollten nicht so tun, als sei die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft nur dem Internet geschuldet. Das hat gewisse Tendenzen sicher verstärkt und vertieft, aber nicht verursacht. Die wohlhabenden Wirtschaftsnationen müssen Wege finden, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Wenn Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, dass sie keine Rolle spielen in der Zukunft, dann ist die Gefahr groß, dass sie denen zuhören, die einfache und spalterische Antworten auf Probleme haben. In Deutschland bemühen wir uns darum, dass sich beim anstehenden Strukturwandel niemand allein gelassen fühlt, dass wir uns kümmern. Das ist im amerikanischen Rustbelt anders abgelaufen.
Ist der Zugang zu neuen Technologien auch eine soziale Frage?
Scholz: Es ist jedenfalls eine der entscheidenden Zukunftsfragen unserer Volkswirtschaft. Wir sind in der Vergangenheit an vielen Stellen falsch abgebogen. Die Privatisierung einstiger Staatsbetriebe hat den Fortschritt beschleunigt, ohne Frage, aber dabei einiges aus dem Blick gelassen. Nicht alles, was der Staat erledigt hat, ergibt sich automatisch aus den Märkten. Für ein Unternehmen mag sich eine 100-prozentige Netzabdeckung nicht rechnen, für Wirtschaft und Gesellschaft ist sie aber absolut notwendig, damit jeder und jede davon profitieren kann – das ist dann eine Frage von Chancen-Gerechtigkeit. Deshalb muss man bei Privatisierungen die Regulierung mitdenken, in dem Falle also Netzabdeckung und -qualität festschreiben. Da waren wir an vielen Stellen zu zurückhaltend. Diesen Fehler korrigieren wir gerade. Anders können wir unser wirtschaftliches Erfolgsmodell nicht fortsetzen. Dazu gehört moderne Infrastruktur. Viele unserer Unternehmen, Weltmarktführer, sind auf dem Land angesiedelt. Das ist eben anders als in Frankreich oder Großbritannien.
Sie haben drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Bundestag eine bemerkenswerte Rede gehalten und eine 180-Grad-Kehrtwende in der Verteidigungspolitik mit 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr verkündet, Ohne vergleichen zu wollen: Warum schaffen wir so einen Sprung nicht endlich mal für die Digitalisierung?
Scholz: Für die Digitalisierung setzen wir auch sehr viel Geld ein. Aber hier gibt es natürlich einen wesentlichen Unterschied. Die Bundeswehr ist zu hundert Prozent öffentlich finanziert. Bei der digitalen Infrastruktur erwarte ich erst einmal, dass der Markt das leistet, was die privatwirtschaftlichen Geschäftsmodelle versprechen. Erst im zweiten Schritt kommt – wo nötig – das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ins Spiel.
Aber eben haben Sie doch selbst darauf hingewiesen, dass Marktkräfte da nicht immer funktionieren …
Scholz: Es geht darum, klare Vorgaben zu machen. Deshalb haben wir gerade bei der Ausschreibung der Lizenzen für den Mobilfunk darauf geachtet, dass das Land besser abgedeckt wird und nicht allein darauf, möglichst viel Geld in die Staatskasse zu spülen.
Viele Länder planen, zahlreiche Verwaltungsprozesse auf der Blockchain abzubilden. Wann ist es in Deutschland soweit?
Scholz: Die Blockchain-Technologie ist hoch interessant, deshalb fördert die Bundesregierung auch gewisse Projekte in diesem Bereich.
… aber sie ist nach Ihrer neuen Digitalstrategie nicht mehr Schlüsseltechnologie …
Scholz: Die Technologie ist vor allem für jene Länder relevant, in denen die öffentliche Verwaltung noch nicht reibungslos funktioniert. In einem Land ohne Grundbuchamt ergibt eine Blockchain durchaus Sinn. Wo es das gibt, da gibt es schon für jeden Flecken Erde eine gesicherte Eigentumsdokumentation.
Sie würden also sagen: Die deutsche Verwaltung funktioniert?
Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen. Dass wir bei der Digitalisierung der Verwaltung in Deutschland noch große Fortschritte machen müssen, ja, das finde ich auch.
Was sagen Sie den Verfechtern der These, dass die Zeiten der zentralisierten Geldpolitik durch Zentralbanken vorbei sind, weil dezentralisierte Kryptowährungen auf der Blockchain viel besser funktionieren?
Scholz: Meine feste Überzeugung ist: Der Staat sollte Währungen bereitstellen. Das ist ein Kernelement der Demokratie. Natürlich müssen die Staaten bei elektronischen Zahlungen vorankommen. Die Europäische Zentralbank plant einen digitalen Euro. Aber, dass private Akteure Währungen verwalten und womöglich Krisen verursachen – das halte ich für keine gute Perspektive. Ich gebe hier gerne meine Reserviertheit gegenüber Kryptowährungen zu Protokoll.
Waren Sie eigentlich schon mal im Metaverse?
Scholz: Ja, bei einer Ausstellung.
Haben Sie denn schon einen eigenen Avatar?
Scholz: Nein.
Wie würde denn Ihr Avatar aussehen?
Scholz: Na, zumindest hätte er keine Haare auf dem Kopf.
Im Metaverse kann man gegen Kryptogeld günstig Haare erwerben.
Scholz: Ich finde, man sollte dazu stehen, wie man aussieht.
Wann können wir unsere behördlichen Angelegenheiten im Metaverse erledigen?
Scholz: In virtuellen Welten beispielsweise mit Künstlerinnen und Künstlern zu kommunizieren, ist eine tolle Erfahrung, und es gibt sicher viele weitere Anwendungsbereiche. Aber reale Verwaltungsvorgänge im Metaverse? Da halte ich den Aufwand für beträchtlich.
Wenn Künstliche Intelligenz immer mehr Aufgaben übernimmt, wozu brauchen wir in Zukunft noch Wahlen? Eine KI könnte doch die politischen Präferenzen der Menschen berechnen.
Scholz: Demokratie ist ein deliberativer Prozess, in dem sich die Bürgerinnen und Bürger informieren, eine Meinung bilden, und dann fachkompetente Männer und Frauen in ein Parlament wählen. Daran sollten wir festhalten. Es gibt ja auch den Fall, dass mich Menschen wählen, obwohl sie nicht mit allen meinen Positionen übereinstimmen. Für eine solche Situation hat künstliche Intelligenz keine logische Antwort. Demokratie besteht nicht aus Meinungsbildern, sondern aus – durch den Volkswillen legitimierten – Entscheidungen.
In Ländern wie Singapur oder den USA finden fast 40 Prozent der Menschen, dass KI auch politische Entscheidungen treffen sollte.
Scholz: Dahinter verbirgt sich vielleicht der Wunsch nach einer Beschleunigung demokratischer Entscheidungsprozessen – weniger nach Übertragung der Entscheidung an KI.
Ein US-Think Tank unter Leitung des ehemaligen Google-Chefs Eric Schmidt schreibt in einer neuen Studie: Der Wettbewerb zwischen China und den USA ist das prägende strategische Element der Weltpolitik. Sorgen Sie sich um die wachsende Technologiedominanz Chinas?
Scholz: Zunächst mal glaube ich nicht an dieses bipolare Weltbild. Ich finde diese Assoziation eines Zweikampfes zwischen den USA und China zwar nachvollziehbar, aber falsch. Die Welt ist multipolar, denken Sie nur an bevölkerungsreiche Staaten in Asien, wie Japan, Indien oder Indonesien. Für uns Europäerinnen und Europäer bedeutet das: Wir müssen bei den neuen Technologien vorne dabei sein und eigene Fähigkeiten entwickeln. Wo wir Schwächen sehen, müssen wir helfen, eigene Kraft zu entfalten, wie es jetzt bei der Halbleiterproduktion in Deutschland und Europa ja auch gelingt. Oder bei KI, die für die Bekämpfung der Geldwäsche oder des Terrorismus geeignet ist. Beim Quantum Computing sind wir in Deutschland wissenschaftlich hervorragend, aber wir müssen die Lösungen auch in den Markt bringen und brauchen einen eigenen Quantencomputer.
Beim Quantencomputing sind wir im internationalen Vergleich ja mal richtig gut unterwegs …
Da sind wir sehr gut unterwegs – auch weil da im wissenschaftlichen Wettbewerb technologischen Fähigkeiten geschärft wurden.
China exportiert seine Gesichtserkennungstechnologien nach Afrika, Lateinamerika und Osteuropa. Ist das nicht in Wahrheit kein Technologie-, sondern vielmehr ein Systemexport?
Scholz: Die chinesische Regierung träumt von der Totalüberwachung ihrer eigenen Bevölkerung. Ich glaube nicht, dass dieser Traum des technologischen Durchregierens jemals Wirklichkeit wird. Trotzdem ist das eine Bedrohung. Aber auch hier gilt wieder: Gesichtserkennungstechnologie ist nicht per se schlecht, aber wir müssen genau schauen, wo wir sie einsetzen wollen. Künstliche Intelligenz ist ja nicht im eigentlichen Sinne intelligent. Sie erkennt Muster. Und manchmal ist das Muster dumm. Wenn man eine KI nur mit Daten von Männern trainiert, dann werden Frauen in Bewerbungsverfahren aussortiert. Bei aller Faszination für Technologie: Man darf nicht der Versuchung verfallen, alles immer für gut oder immer für schlecht zu halten. Es kommt auf einen vernünftigen Einsatz an. Das ist die entscheidende Aufgabe einer freiheitlichen Gesellschaft.
Welche Rolle kann Deutschland in Europa spielen?
Scholz: Wir müssen als Europäische Union Technologiefelder definieren, auf denen wir weltweit führend sein wollen – auch wie wir die technologische Offensive durch Regeln und Gesetze begleiten. Als Gesetzgeber ist Europa inzwischen übrigens richtig gut.
Auf welche Technologie würden Sie persönlich niemals verzichten wollen?
Scholz: (zögert lange) Ich finde die Frage schwer zu beantworten, weil wir plötzlich Dinge für unverzichtbar halten, die noch gar nicht so alt sind …
Vielleicht können Sie den Begriff im Sinne des Altgriechischen „techne“ interpretieren, also als zivilisatorische Kunst …
Scholz: Als ich mir mein erstes Mobiltelefon zugelegt habe, 1990 war das, da war das so groß und schwer, dass ich es immer ein wenig versteckt habe, weil man sonst als Yuppie galt. So war das damals, und jetzt ist es ganz anders und wir kommen nicht mehr ohne das Smartphone zurecht. Schon interessant, wie sich unser Verhältnis zu Technologie innerhalb weniger Jahre verändert.