Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim T20 Global Solution Summit

  • Bundeskanzler ⏐ Startseite
  • Olaf Scholz

  • Aktuelles

  • Kanzleramt

  • Mediathek 

  • Service

Sehr geehrter Herr Professor Snower,
meine Damen und Herren,

ich freue mich sehr, lieber Herr Professor Snower, heute bei diesem T20 Global Solutions Summit mit dabei zu sein. Dass von Solutions, also von Lösungen, die Rede ist, zeugt von einem gewissen Optimismus, den wir auch brauchen, wenn wir die großen globalen Herausforderungen unserer Zeit angehen und bewältigen wollen.

Dass globale Fragen letztlich nur global gelöst werden können, ist unsere Überzeugung – auch meine –, die derzeit aber, wie wir alle erleben, nicht von allen geteilt wird. Ohne jeden Zweifel ist der so wichtige Ansatz multilateralen Handelns gegenwärtig sehr unter Druck bzw. in der Krise. Er wird von protektionistischem und abschottendem Denken und Handeln herausgefordert, um dies noch recht zurückhaltend zu formulieren. Umso wichtiger bleiben Formate wie die G20, die die Vertreter der weltweit stärksten Wirtschaftsnationen zusammenbringen. Umso wichtiger bleiben auch Treffen wie dieses, die ihrerseits im Vorfeld und Umfeld Bürgerinnen und Bürger sowie Experten aus allen Bereichen zusammenbringen.

„Eine vernetzte Welt gestalten“ – dieses Motto unserer deutschen G20-Präsidentschaft im letzten Jahr hat klar zum Ausdruck gebracht, dass wir die globale Zusammenarbeit voranbringen wollen. Das ist uns – allen Widrigkeiten und Anfechtungen zum Trotz – in einigen Bereichen sogar gelungen. Beispielsweise haben wir Fortschritte bei der globalen Kooperation im Gesundheitsbereich erreicht, ebenso bei der Partnerschaft mit Afrika. Wir haben uns für ein regelbasiertes Welthandelssystem mit offenen Märkten ausgesprochen. Wir haben Fortschritte im globalen Stahlforum erzielt und uns darauf geeinigt, gegen globale Überkapazitäten vorzugehen. Gemeinsam stehen wir zu den Zielen der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung. Bei der Menschheitsherausforderung des Klimawandels – ich möchte auch meine Kollegin, die Bundesumweltministerin, ganz herzlich begrüßen – konnten wir zwar keine Einigkeit erzielen, aber mit Ausnahme der Vereinigten Staaten von Amerika sind alle anderen G20-Partner entschlossen, das Pariser Klimaschutzabkommen umzusetzen.

Der deutschen G20-Präsidentschaft war es sehr wichtig, einen breiten Dialog mit Vertretern aus verschiedensten Bereichen der Zivilgesellschaft zu führen. So konnten wir unsere Themen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachten. Vor diesem Hintergrund ist auch die Bedeutung zu sehen, die ein so großer Thinktank wie T20 für die politische Diskussion haben kann. Hier werden die Expertisen und Erfahrungen vieler kluger Köpfe gebündelt. Das ist eine echte Bereicherung im Prozess der politischen Meinungsbildung und Lösungsfindung. Dafür möchte ich Ihnen, lieber Herr Professor Snower, ganz herzlichen Dank sagen. Sie geben uns zudem klar zu verstehen, dass es nicht beim Austausch bleiben sollte, sondern dass es um das Gestalten geht – darum, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen; kurz: um Global Governance.

Die Chancen der Globalisierung zu nutzen und ihre Risiken zu mindern – gemeinsam könnten wir das am besten erreichen. Stattdessen aber sehen wir, wie sehr multilaterale Ansätze oft infrage gestellt werden. Internationale Abkommen und Institutionen werden geschwächt, bereits gefundene Lösungen nicht mehr unterstützt und zum Teil Alleingänge gestartet. Das ist besorgniserregend. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass unsere multilaterale Ordnung eine wichtige Lehre aus den beiden verheerenden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts ist. Ein enges Geflecht internationaler Zusammenarbeit sollte Frieden sichern.

Wie leicht es aber ist, Frieden zu verlieren, und wie schwer es ist, ihn zurückzugewinnen – dies erleben wir Europäer gegenwärtig in unserer Nachbarschaft: in der Ukraine, in Syrien oder in Libyen. Ihrer Lebensperspektiven beraubt sahen sich Millionen von Menschen vor allem aus Syrien zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen. So bekamen auch wir in Europa – damit hatten wir nicht gerechnet – die Folgen von Krisen und Konflikten unmittelbar zu spüren. Weltweit sind derzeit über 65 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg.

Ist also der multilaterale Weg, den wir bisher eingeschlagen haben, eine Sackgasse? Etwa weil die Abstimmungen zu langwierig sind? Weil Vereinbarungen nur mit dem vermeintlich kleinsten gemeinsamen Nenner getroffen werden? Oder weil es multilateralen Institutionen an Handlungsfähigkeit und Durchschlagskraft fehlt?

Das Klimaabkommen von Paris und die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung sind prominente Beispiele dafür, dass die internationale Staatengemeinschaft sehr wohl zu weitreichenden Beschlüssen fähig ist. Diese und andere Abkommen gilt es aber auch umzusetzen. Dazu müssen sich die Vereinten Nationen institutionell und strukturell noch stärker an den globalen Nachhaltigkeitszielen ausrichten. UN-Generalsekretär António Guterres arbeitet deshalb auch daran, generell mehr Effizienz und eine bessere Koordination ins UN-System zu bringen. Deutschland ist bereit, ihn dabei tatkräftig zu unterstützen.

Reformbedarf gibt es nicht nur in institutioneller Hinsicht. Ob es zum Beispiel um die UN-Flüchtlingshilfe geht oder um das Welternährungsprogramm – die Handlungsfähigkeit internationaler Organisationen leidet auch unter mangelnder politischer Unterstützung und infolgedessen auch unter Finanzmittelknappheit. So kamen lange Zeit in den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon viel weniger Hilfen für syrische Flüchtlinge an, als international zugesagt waren. Dass sich auch deswegen Menschen auf den durchaus sehr gefährlichen Weg nach Europa gemacht hatten, um zu überleben, sollte uns eigentlich nicht wundern.

Doch bei allen Mängeln und Defiziten – es sind und bleiben die Vereinten Nationen, die bei der Beseitigung von Fluchtursachen eine entscheidende Rolle spielen; sei es im Hinblick auf die humanitäre Versorgung von Notleidenden oder bei der Stabilisierung von Krisengebieten. Ohne die Vereinten Nationen und ihre Hilfsorganisationen wäre die Welt noch weit unsicherer, wäre die Zahl der Flüchtenden noch höher, wären die Brutstätten des Terrors noch zahlreicher. Die finanzielle, materielle und personelle Unterstützung der Vereinten Nationen ist eine Investition in die Perspektiven unzähliger Menschen. Außerdem sind einzelne Staaten alleine – ganz gleich, wie groß und wie stark sie sind – globalen Herausforderungen kaum oder gar nicht gewachsen. Wirkliche Lösungen brauchen den internationalen Schulterschluss.

Es steht außer Frage – ich könnte dazu noch viele Beispiele aus meinem Leben erzählen –, dass der Multilateralismus manchmal sehr zermürbend und zäh sein kann. Er verspricht keine einfachen Lösungen, er eignet sich schlecht für Stimmungsmache und Stimmenfang. Aber: Es gibt nichts Besseres als den multilateralen Ansatz, um die Gestaltung der Globalisierung, die uns alle betrifft, nicht Akteuren zu überlassen, die ausschließlich ihre eigenen Interessen und nicht das Gemeinwohl im Sinn haben. Aus der Einsicht in die Notwendigkeit des Interessenausgleichs leitet sich unmittelbar die Bedeutung gemeinsamer Strukturen ab: der Europäischen oder der Afrikanischen Union, der NATO, der internationalen Organisationen WTO, IWF, Weltbank oder ILO – und allen voran der Vereinten Nationen.

Deutschlands Bewerbung um einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen steht für unser Bekenntnis zur internationalen Ordnung – und dafür, dass wir bereit sind, Mitverantwortung zu tragen. Deshalb suchen wir gemeinsam mit anderen Partnern weiterhin nach einer politischen Lösung in Syrien und sind entschlossen, am Iran-Abkommen festzuhalten, sofern auch der Iran seine Verpflichtungen einhält. Deshalb übernehmen wir Mitverantwortung für Sicherheit und Stabilität auch in afrikanischen Ländern. Das muss Hilfe zur Selbsthilfe sein. Letztlich muss Afrika selbst Fähigkeiten zur Krisenintervention und Konfliktlösung aufbauen. Aber das geschieht ja auch Schritt für Schritt. Frieden ist die wichtigste Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben – dafür, dass sich niemand zur Flucht gezwungen sieht und dass daher auch illegale Migration, an der nur Schlepper gewinnen und durch die viel zu viele Menschen in Gefahr gebracht werden, abnimmt.

Afrika ist jung, seine Bevölkerung wächst rasant. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Afrika ist jünger als 25 Jahre. Es ist immer interessant, wenn man sich das jeweilige Durchschnittsalter der Menschen in den Ländern anschaut: Beim Durchschnittsalter in Deutschland landet man bei ungefähr 45 Jahren; und beim Durchschnittsalter in Niger oder in Mali bei 15 oder 16 Jahren. Daran kann man den Unterschied zwischen beiden Ländern sehen. Die Jugend Afrikas braucht Perspektiven. Das heißt, Afrika braucht mehr Investitionen in Bildung, Ausbildung und Beschäftigung. Ich bin sehr froh, dass die Afrikanische Union mit ihrer Agenda 2063 einen eigenen Plan hat, um zu sagen, was ihr wichtig ist. So können wir auch besser kooperieren. Gerade auch Frauen brauchen Perspektiven und müssen insgesamt besser am wirtschaftlichen Leben teilhaben. Das ist ja nur dann der Fall, wenn sie auch mitgestalten können.

Eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung bezieht alle mit ein. Sie lebt von verlässlichen Rahmenbedingungen, von einer funktionierenden Grundinfrastruktur und natürlich von einer guten Regierungsführung. Unter diesen Voraussetzungen lassen sich dann auch private Investoren finden, ohne die eine Entwicklung nicht stattfinden wird. Allein mit öffentlichen Entwicklungsgeldern lässt sich kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum erzielen.

Deshalb gibt es unter anderem eine Initiative, die wir während unserer G20-Präsidentschaft eingeleitet haben: Die sogenannten „Compacts with Africa“. Diese dienen dazu, privatwirtschaftliches Engagement voranzubringen und mit den Regierungen über die Rahmenbedingungen dafür zu sprechen. Wir beziehen dabei auch multilaterale Akteure wie den IWF, die Weltbank und die Afrikanische Entwicklungsbank ein und nutzen damit alle Möglichkeiten, um Investitionen zu mobilisieren. Es geht auch darum, die regionale Integration von Märkten zu unterstützen. Wir wollen Technologie- und Wissenstransfer voranbringen. Darüber hinaus geht es auch um eine bessere Integration der Länder Afrikas in die gesamte Weltwirtschaft.

Wir in Deutschland zum Beispiel wissen, dass wir einen großen Teil unseres Wohlstands der erfolgreichen Einbindung in die globalen Märkte verdanken. Aus Erfahrung und Überzeugung bekennen wir uns deshalb zu offenen Märkten und zum multilateralen, regelgebundenen Handelssystem – und das mit einer starken Welthandelsorganisation im Zentrum. Das multilaterale Regelwerk schafft Rechtssicherheit und damit auch Planbarkeit für Unternehmen, die außenwirtschaftlich aktiv sind oder sein wollen.

Freier und fairer Handel ist ein zentraler Motor für wirtschaftlichen Fortschritt für alle Beteiligten. Daher war es ein großer Erfolg der G20, protektionistischen Maßnahmen im Nachgang der internationalen Finanzkrise eine Absage zu erteilen. Aber – leider, sage ich – mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Finanzkrise nimmt die Neigung zu, protektionistische Maßnahmen wieder in Erwägung zu ziehen. Außerdem sehen wir, dass Wohlstandsgewinne den einen mehr, den anderen weniger und manchen so gut wie überhaupt nicht zugutekommen. Deshalb sind wir dazu aufgerufen, unsere Wirtschafts-, Handels- und Finanzpolitik mehr auf inklusives Wachstum auszurichten. Was das bedeutet, haben wir bereits am Beispiel Afrika gesehen. Es geht darum, wirtschaftlich schwächere Länder besser in die internationale Arbeitsteilung einzubinden, ihnen bessere Marktzugänge zu bieten und vor Ort mitzuhelfen, Anreize zu unternehmerischem Engagement zu erhöhen.

Eine bessere Einbindung in die Weltwirtschaft kann viel Gutes bewirken, wie etwa das Millennium-Entwicklungsziel aus dem Jahr 2000, extreme Armut bis 2015 zu halbieren, gezeigt hat. Das ist gelungen; wir haben dieses Ziel erreicht. Und das ist vor allem dem wirtschaftlichen Aufschwung in Asien zu verdanken. Mit diesem wirtschaftlichen Aufschwung in Asien haben sich auch die Gewichte auf der Welt verschoben. China steht beispielhaft dafür. Mit dem beeindruckenden Wirtschaftswachstum des Landes ist zugleich seine internationale Verantwortung gewachsen. Ob sich eine so große Volkswirtschaft wie China an den Regeln der globalen Wirtschaft orientiert und sich an sie hält, ist von großer Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung weltweit. Immer – wahrlich nicht nur auf China bezogen – geht es darum, deutlich zu machen, dass die Regeleinhaltung sowohl in globalem als auch in eigenem Interesse liegt – ob es nun um den Abbau von Handels- und Investitionshindernissen geht, um die Gleichbehandlung in- und ausländischer Unternehmen auf dem eigenen Markt oder um die Einhaltung von Schutzstandards für Umwelt, Arbeitnehmer und Verbraucher.

Globalisierung findet statt und betrifft unser aller Leben. Wir müssen deshalb die Frage beantworten, ob wir uns von der Globalisierung treiben lassen oder sie nach unseren Vorstellungen mitgestalten wollen – wirtschaftlich, sozial, ökologisch und humanitär. Deutschland hat von der Globalisierung bis heute außerordentlich profitiert. Aber wir haben keine Gewähr und erst recht keinen Anspruch darauf, dass das auch künftig der Fall sein wird. Deshalb ist es so wichtig, dass wir auch weiterhin Überzeugungsarbeit für unseren Ansatz der Offenheit leisten – und zwar gemeinsam mit unseren Partnern.

Da zeigt sich der besondere Wert der Europäischen Union. Wenn wir Europäer mit einer Stimme sprechen, dann findet diese Stimme in der Welt mehr Gehör als die eines einzelnen Landes. Wir Europäer müssen in der Außen-, Entwicklungs- und Verteidigungspolitik und auch in der Wirtschaftspolitik noch enger zusammenarbeiten. Dann können wir uns auch in der Welt intensiver, glaubwürdiger, überzeugender und damit wirksamer für fairen und freien Handel ebenso wie für die Schaffung neuer Perspektiven für Menschen einsetzen, die bislang keine Perspektiven haben und deshalb ihre Heimat verlassen.

Meine Damen und Herren, es mangelt nicht an globalen Herausforderungen. Aber es mangelt eben auch nicht an guten Ideen. Das ist ja angesichts Ihres Summit, bei dem Sie sich um Lösungen kümmern, unverkennbar. Deshalb freue ich mich, nicht nur zu Ihnen zu sprechen, sondern auch mit Ihnen zu sprechen und Ihre Fragen zu beantworten.

Ich wünsche Ihnen noch einen sehr, sehr guten Verlauf der Tagung. Ich begrüße ganz besonders die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Argentinien. Wir freuen uns in diesem Jahr schon sehr darauf, in Lateinamerika, in Argentinien, zu Gast zu sein. Ich weiß aus meinen Gesprächen mit Präsident Macri, dass auch er sich den Zielen der gestalteten Globalisierung verbunden fühlt.

Herzlichen Dank.