Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim 37. Deutschen Evangelischen Kirchentag am 22. Juni 2019 in Dortmund

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Liebe Frau Präsidentin, liebe Ellen Johnson-Sirleaf,
sehr geehrte Frau Limperg,
sehr geehrte Frau Prof. Helmke,
vor allem: liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kirchentags,

natürlich bin ich heute sehr gerne hierhergekommen, ganz besonders, weil Ellen Johnson-Sirleaf hier ist. Wir können uns, glaube ich, als politische Freundinnen bezeichnen. Eine meiner bewegendsten Reisen nach Afrika war in der Tat die nach Liberia. Sie hat ja darüber gesprochen, was sie geleistet hat. Liebe Ellen, so, wie du gezeigt hast, dass der demokratische Wechsel in Liberia endlich zur Tagesordnung gehört, so ist das in Deutschland eben auch. Alles hat einen Anfang; und alles hat auch einmal ein Ende.

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer, der Evangelische Kirchentag wird in diesem Jahr 70 Jahre alt, so alt wie unser Grundgesetz. Es wird gebetet, musiziert und debattiert über das, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Dieser Zusammenhalt einer Gesellschaft kann ohne Vertrauen, ohne ein Mindestmaß an Vertrauen nicht gelingen. Überhaupt können keine Beziehungen ohne Vertrauen gelingen – nicht im Kleinen, nicht im Großen, nicht in der Familie, nicht in der Nachbarschaft; und so ist es eben auch zwischen den Völkern und Nationen.

Deshalb könnten das Motto des Kirchentags „Was für ein Vertrauen“ und das Thema dieses Panels „Vertrauen als Grundlage internationaler Politik?“ kaum besser gewählt sein. Ich möchte aber gleich zu Beginn das Fragezeichen, das Sie beim Panelmotto gemacht haben, durch ein Ausrufezeichen ersetzen. Denn ohne Vertrauen als Grundlage kann internationale Politik nicht gelingen – jedenfalls nicht, wenn sie auf das Wohl der Menschen ausgerichtet sein soll. Ich glaube, die Rede von Ellen Johnson-Sirleaf hat das gezeigt.

Gerade auch unser Land, Deutschland, sollte das wirklich nie vergessen. Unserem Land wird heute viel Vertrauen in der Welt geschenkt. Das grenzt eigentlich an ein Wunder, nachdem Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus mit dem von ihm entfesselten Zweiten Weltkrieg und dem Zivilisationsbruch der Shoa unendlich viel Leid über Europa und die Welt gebracht hatte. Es wäre nicht unwahrscheinlich gewesen, wenn sich Europa und die Welt nach dem Ende dieser Schrecken weiter unversöhnlich gegenübergestanden hätten. Aber stattdessen hat Europa jahrhundertealte Konflikte überwunden.

Es entstand eine Ordnung des Friedens, die auf Gemeinsamkeit statt auf scheinbare nationale Stärke aufbaute, eine Ordnung, die den Menschen und seine Rechte schützen sollte, eine Ordnung, die Raum für neues, für ein begründetes und berechtigtes Vertrauen schuf, weil sie auf Zusammenarbeit und Verständigung, auf gemeinsamen Regeln und auf Kompromissen beruhte.

Wir Deutschen können gar nicht dankbar genug sein, dass es damals starke Fürsprecher gab, die Deutschland den Weg zurück in die Weltgemeinschaft, den Weg in die Ordnung des Friedens geebnet haben. Heute dürfen wir als Deutsche auch sagen, dass die Fürsprecher für ein demokratisches Deutschland nicht enttäuscht wurden – zunächst mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland, für die vor 70 Jahren das Grundgesetz in Kraft trat; und nach dem Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren und der Wiedervereinigung vor 29 Jahren dann auch mit Blick auf das ganze wiedervereinte Land.

Meine Damen und Herren, nach innen ist es der demokratische Rechtsstaat, der einer Vertrauensbeziehung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und ihrem Staat Ausdruck verleiht. Das ist im Grunde ein Versprechen: der Rechtsstaat gibt Bürgerinnen und Bürgern eine Grundlage für Vertrauen in diesen Staat. Der DDR, die wie die Bundesrepublik vor 70 Jahren gegründet wurde, fehlte es an dieser Vertrauensbeziehung. Der Staat misstraute den eigenen Bürgerinnen und Bürgern so sehr, dass Persönlichkeits- und Freiheitsrechte immer wieder beschnitten wurden, dass ausspioniert wurde und dass eine Mauer errichtet wurde, weil man Angst hatte, dass sonst zu viele weggehen. Wer diese Mauer überwinden wollte, wurde verhaftet oder erschossen. Aber dann, als die Mauer vor 30 Jahren fiel, habe auch ich persönlich erlebt, dass nichts so bleiben muss, wie es ist. Das, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ist eine großartige Erfahrung, auch wenn damit nicht alle Probleme weg sind.

Der Westen, die alte Bundesrepublik und ihre Partner, konnten schon in den ersten 40 Jahren nach dem Krieg an der anderen großartigen Erfahrung des 20. Jahrhunderts teilhaben: an der Erfahrung des europäischen Einigungsprozesses. Die europäische Einigung und mit ihr auch die transatlantische Partnerschaft wurden nur möglich, weil sie auf gemeinsamen Werten gründeten, weil aus Verständigung über gemeinsame Werte Vertrauen entstanden ist – und zwar nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch inmitten unserer Gesellschaft. Es kam zu Städtepartnerschaften, Schüleraustausch, Christinnen und Christen engagierten sich für die Aussöhnung der Völker. Denken wir nur an das Nagelkreuz von Coventry als Zeichen der Vergebung und des Friedens.

Vertrauen war es auch, das aus Deutschen und Franzosen, den einstigen sogenannten Erbfeinden – ein schreckliches Wort –, Partner und Freunde machte. Einen wirklich echten Vertrauensvorschuss erhielten wir Deutschen von Israel, als 1952, nur sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoa, das sogenannte Luxemburger Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel unterzeichnet wurde, und 1965 auch diplomatische Beziehungen aufgenommen wurden. Auch in Polen wurde neues Vertrauen gefasst. Dort besaßen zum Beispiel die katholischen Bischöfe die Kraft, 1965, mitten im Kalten Krieg, ihren deutschen Amtsbrüdern zu schreiben: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ Und schließlich wissen wir alle, dass die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit niemals möglich gewesen wäre, wenn die einstigen vier Alliierten in den Zwei-plus-vier-Verhandlungen 1990 uns Deutschen kein Vertrauen hätten schenken können.

Natürlich fällt Vertrauen nicht vom Himmel. Es hängt entscheidend von der Glaubwürdigkeit von Persönlichkeiten ab – zum Beispiel von Staatsmännern wie Willy Brandt, Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher und so vielen anderen, die dazu beitrugen, das notwendige Vertrauen in Ost und West über viele, viele Jahre aufzubauen.

In der Politik wie im ganz alltäglichen Leben beruhen Glaubwürdigkeit und Vertrauen vorneweg immer auf der unmittelbaren Begegnung. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es einen Riesenunterschied macht, ob ich mit meinen Amtskolleginnen und -kollegen telefoniere oder ob wir uns persönlich treffen – sei es zu bilateralen Begegnungen oder in der EU, der NATO, der UNO oder auch im Kreis der G7 und G20. Am kommenden Donnerstag werde ich nach Osaka in Japan fahren, zum nächsten G20-Gipfel. Das alles ist sicher nicht einfach; und trotzdem ist es wichtig, dass wir uns begegnen und um Vertrauen kämpfen. Ohne die Begegnungen mit Ellen Johnson-Sirleaf, auch in ihrem eigenen Land, hätte ich überhaupt keine Vorstellung davon, wie es dort ist. Vertrauen beruht eben auch auf der Kenntnis der Lebenswelt des anderen.

Zugleich weiß ich aber auch, dass der, der Vertrauen genießt, natürlich auch Verantwortung hat. Dieser Verantwortung müssen wir jeden Tag gerecht werden. Wir tun das in der Überzeugung, dass kein Land allein die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen kann.

Aber wir erleben im Augenblick – 70 Jahre nach Gründung all dieser Institutionen, die ja auch geschaffen wurden, um Vertrauen auszudrücken –, dass das Vertrauen in die internationalen Beziehungen an vielen Stellen abnimmt. Misstrauen wird mancherorts gar zur Regierungspolitik erklärt. Es wird erklärt, dass man sich nur auf sich und die eigenen Interessen konzentrieren soll. So werden vielfältige internationale Wechselwirkungen und gegenseitige Abhängigkeiten ignoriert. Mitverantwortung in globalen Fragen der Wirtschaft, des Klimaschutzes, der Migration wird vernachlässigt oder anderen überlassen. Kompromisse, Regeln, Verträge, internationale Organisationen werden infrage gestellt.

Wir wissen nur zu gut, dass Protektionismus und Handelskonflikte den freien Welthandel und damit die Grundlagen unseres Wohlstands gefährden. Zugleich sehen wir, wie sehr die Digitalisierung alle Lebensbereiche erfasst, wie Kriege und Terrorismus zu Flucht und Vertreibung führen, wie der Klimawandel die natürlichen Lebensgrundlagen bedroht. Nichts davon kann ein Land allein – und sei es noch so stark, wirtschaftlich wie militärisch – bewältigen, jedenfalls nicht dauerhaft. Davon bin ich überzeugt.

Allein die multilaterale Ordnung ist es, die die nötigen Handlungsmöglichkeiten zum Wohle aller schafft, die Verlässlichkeit und damit Vertrauen herstellen kann. Es sind die UN-Charta, die Menschenrechtspakte, das Klimaschutzabkommen von Paris, die Agenda 2030, Abrüstungsverträge, Handelsregeln der WTO und vieles mehr, die unserer Staatengemeinschaft insgesamt dienen und damit zum globalen Gemeinwohl beitragen und in der Folge auch den nationalen Interessen dienen. Das eine gibt es nicht ohne das andere.

Deshalb werde ich wieder und wieder dafür werben, dass wir multilateral statt unilateral, global statt national, weltoffen statt isolationistisch, gemeinsam statt allein denken und handeln. Genau diesem Ziel dienen auch zwei Gipfeltreffen, die noch in diesem Jahr stattfinden werden: der Klimagipfel und der Nachhaltigkeitsgipfel im September, veranstaltet vom Generalsekretär der Vereinten Nationen. Es wird dabei nicht reichen, vornehmlich über die bisherige Entwicklung Bilanz zu ziehen. Vielmehr müssen die Staats- und Regierungschefs von diesem Gipfel das Signal aussenden, dass sie ihre Anstrengungen verstärken und deutlich machen, dass wir besser werden müssen. Ich werde mich dafür einsetzen.

Für uns – UN-Generalsekretär Guterres nimmt uns dafür auch in die Pflicht – heißt das mit Blick auf das Klimathema, dass wir in Deutschland bis 2050 Klimaneutralität erreichen können und erreichen werden. Das ist unsere Verpflichtung. Die Agenda 2030 und ihre 17 Nachhaltigkeitsziele – Hunger und Armut zu bekämpfen, Zugang zu sauberem Wasser, zu Gesundheit und Bildung zu schaffen und vieles andere mehr – müssen uns Verpflichtung sein, dass wir sie wirklich bis 2030 erreichen. Da liegt viel Arbeit vor uns.

Ich freue mich sehr, dass Ellen Johnson-Sirleaf den „Compact with Africa“ erwähnt hat. Das ist etwas, das wir auch als „Ownership“ beschreiben, wenn nämlich die afrikanischen Länder ihre eigenen Pläne haben. Sie haben ihre Agenda 2063; und an dieser müssen wir uns orientieren. Wir dürfen nicht nur das machen, was wir richtig finden, sondern wir müssen das machen, was Afrika mit seinen Regierungen und mit seiner Zivilgesellschaft zu brauchen glaubt.

Die Präsidentin hat uns eben erzählt, mit welchem Mut sie in Libera an die Dinge herangegangen ist und welche Schritte gegangen werden konnten. Auch unsere eigene Geschichte wie auch die Geschichte anderer Länder zeigen: Veränderungen zum Guten sind möglich. In welchem Land auch immer und in welcher Situation auch immer – wir haben die Kraft, Veränderungen zum Guten zu bewirken. Wir können die Erderwärmung stoppen, wir können den Hunger besiegen, wir können Krankheiten ausrotten, wir können den Menschen, besonders den Mädchen, Zugang zu Bildung verschaffen, wir können die Ursachen von Flucht und Vertreibung bekämpfen. Das alles können wir schaffen.

Wir haben die Kraft, zu gestalten. Es ist eine Kraft, die wir Christinnen und Christen auch aus Gottvertrauen schöpfen können. Den Religionen insgesamt kommt für die Gestaltung des Miteinanders der Völker eine große Bedeutung zu. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass auch dieser Evangelische Kirchentag Vertrauen stiftet.

Jetzt hoffe ich auf eine spannende Diskussion. Herzlichen Dank.