Rede von Bundeskanzler Scholz beim Gipfel für Forschung und Innovation auf der Hannover Messe am 22. April 2024

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Sehr geehrter Herr Professor Kaschke,
sehr geehrte Frau Frank,
sehr geehrter Herr Professor Cantner,
sehr geehrter Herr Professor Haug,
sehr geehrter Herr Dr. Schütte,
meine Damen und Herren!

Die Hannover Messe ist der analoge Zwilling unserer deutschen Industrie – genauso so laut, genauso schnell und genauso beeindruckend. Ich komme gerade jetzt vom Messerundgang, und lassen Sie es mich so sagen: Was ich da gesehen habe, zeigt, warum wir zur Weltspitze gehören. Maschinen, Stahl, Chemie, Autos, exzellente Technik - das sind Deutschlands traditionelle Stärken, und genau diese Stärken kombinieren unsere Unternehmen mit neuen Ideen, Technologien und Innovationen. Auch das hat in Deutschland Tradition. In den Zukunftstechnologien wie KI haben wir in Deutschland ebenfalls starke Player. Ich freue mich, dass Jonas Andrulis nachher hier noch sprechen wird. Das sind genau die Technologien, die wir für eine klimaneutrale Welt brauchen.

Etwa zehn Milliarden Menschen sollen 2050 auf der Welt leben. Der Wohlstand in den Ländern Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik soll bis dahin im Schnitt das Niveau erreichen, das wir in Europa und in Nordamerika in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts hatten. Das ist natürlich erfreulich, denn es bedeutet: Hunderte Millionen Menschen weniger werden dann in Armut leben. Aber es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich vorzustellen: Wenn diese Entwicklung mit fossilen Technologien stattfindet, dann wird unser Planet sehr bald kein angenehmer Ort mehr zum Leben sein.

Deshalb ist doch klar, worin unsere Aufgabe als Wirtschaftsmacht und als Forschungsland liegt, nämlich die Technologien zu entwickeln, die der Welt Fortschritt und Wachstum versprechen, ohne die Erde zu ruinieren: Batterien, die länger halten, als andere und die recyclebar sind, leistungsfähige Elektrolyseure, mit denen wir Wasserstoff herstellen, Maschinen, die uns auch bei komplexeren Arbeiten unterstützen, Autos, die herausragende Qualität und klimafreundliche Technologie vereinen. Was wir dafür brauchen, sind gute Ideen.

Eine besonders gute Idee von Ihnen war es deshalb, dass Sie aus dem Forschungsgipfel in diesem Jahr den „Gipfel für Forschung und Innovation“ gemacht haben, um mit ihm hierher, zur Hannover Messe, zu kommen. Das unterstreicht, worauf es ankommt: Forschung und Industrie müssen noch enger zusammenrücken. Ich habe das gestern schon angedeutet, und ich will das hier noch einmal bekräftigen. Unternehmen in vielen Ländern der Erde haben ähnliche Standards für Autos und Solarpanels und produzieren Medikamente, Aluminium oder Rohstahl. Das ist erst einmal nicht schlimm, im Gegenteil; gerade deutsche Unternehmen profitieren davon bis heute. Zugleich bedeutet das aber: Unsere Produkte müssen auch in Zukunft immer noch ein „My“ innovativer und technologisch ausgefeilter sein, als die aus anderen Ländern. Was heute hier erfunden wird, das ist morgen unser Wettbewerbsvorteil. In der angloamerikanischen Welt formuliert man das etwas weniger romantisch. „Innovate or bust“, lautet dort die Devise, und da ist etwas dran. Forschung ist der entscheidende Erfolgsfaktor Deutschlands als erfolgreiches Industrie- und Exportland.

Auch deshalb investieren wir gemeinsam ‑ Unternehmen und Staat ‑ so viel Geld in Forschung und Entwicklung wie noch nie. Mehr als 120 Milliarden Euro waren es 2022, mehr als gut drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist so viel wie in keiner anderen der großen Volkswirtschaften Europas. Deshalb ist ein gutes Signal damit verbunden, dass 2023 zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder mehr Patente angemeldet wurden. In Europa liegen wir auf Platz zwei. Das deutsche Unternehmen mit den meisten Patentanmeldungen im vergangenen Jahr war übrigens Bosch. Glückwunsch dazu, Frau Rückert, und schön, dass Sie gleich auf dem Podium dabei sind und mitdiskutieren.

Klar ist aber auch: Wir ruhen uns auf solchen Erfolgen nicht aus. Spitzenplätze halten wir nicht von alleine. Private Investitionen unserer Unternehmen werden dabei immer im Mittelpunkt stehen. Aber der Staat kann unterstützen und Anreize setzen. Mit dem Wachstumschancengesetz haben wir gerade steuerliche Forschungszulagen verbessert und ausgeweitet, und ich könnte mir gut vorstellen, dass wir hier noch weiter gehen, wie wir das ursprünglich ja auch vorhatten. Dafür müssen natürlich die Länder und die geschätzte Opposition ein bisschen mitziehen, aber darum werbe ich hier einmal.

Gerade in Sachen Wagniskapital und privater Zukunftsinvestitionen sind uns andere Länder voraus. Übrigens gilt für viele Bereiche Europas, dass die auch anders und langsamer sind, als das etwa in den USA der Fall ist. Das alles ist kein Geheimnis. Mich ärgert es jedenfalls, was ich von jungen deutschen Unternehmen höre, zum Beispiel in einem Zukunftsfeld wie der Laserfusion, nämlich dass sie hier in Deutschland zwar einige Millionen an öffentlicher Forschungsförderung bekommen können, dass aber in den USA dreistellige Millionensummen winken, von Wagniskapitalfonds oder privaten Unternehmen. Anleger und Unternehmen sollten auch hier bei uns mehr Risiko eingehen.

Natürlich brauchen wir einen echten europäischen Kapitalmarkt. Seit Jahren wird darüber debattiert. Emmanuel Macron und ich haben uns vorgenommen, in den kommenden Jahren endlich Nägel mit Köpfen zu machen, wenn man ein so handwerkliches Bild in Zeiten von KI verwenden darf, damit Europa mithalten kann mit den USA und China.

Erfolgreiche deutsche Start-ups in Biotech, Kreislaufwirtschaft, New Space und ziviler Raumfahrt zeigen: Bei der Finanzierung in der Frühphase sind wir in Deutschland ganz gut aufgestellt. Beispiele wie die TUM in München zeigen, wie erhebliches Innnovationspotenzial gut auf dem Weg in die Gründung begleitet wird. Besser werden wollen wir bei der Finanzierung in der Wachstumsphase, zum Beispiel mit dem Zukunftsfonds, mit dem zehn Milliarden Euro bis 2030 zur Verfügung stehen. Der DeepTech & Climate Fonds und der Wachstumsfonds sind schon am Markt aktiv. Mit dem Zukunftsfinanzierungsgesetz haben wir es Start-Ups und jungen Unternehmen leichter gemacht, privates Kapital zu mobilisieren und ihre Entwicklungen voranzutreiben; denn wir wollen, dass Deutschland nicht nur in der Grundlagenforschung immer wieder spitze ist, sondern dass diese Technologien dann auch von deutschen Firmen weiterentwickelt, vermarktet und verkauft werden.

Dafür brauchen wir mehr Tempo beim Transfer von der Forschung in die Praxis, zum Beispiel in der Robotik. Hier entstehen ‑ zurückgehend auf Empfehlungen des Zukunftsrats ‑ aktuell zwei sehr wichtige Robotikinitiativen in Deutschland. Neben dem akademisch ausgerichteten Robotics Institute Germany hat sich ein Konsortium aus kleinen und großen Unternehmen für KI-basierte Robotik gebildet. Es steht kurz vor dem Start, und das zeigt klar, dass wir gemeinsam am Standort wichtige industrielle Initiativen voranbringen können.

Großes Potenzial für die Zukunft sehe ich auch in den Biowissenschaften, die in den vergangenen Jahren im Schnitt um fünf Prozent pro Jahr gewachsen sind. Was Deutschland hier zu leisten im Stande ist, das haben Institutionen wie die Charité oder Unternehmen wie BioNTech und viele andere während der Pandemie bewiesen. Letztes Jahr habe ich mich mit Uğur Şahin von BioNTech getroffen, und er hat mir sinngemäß gesagt: Deutschland hat Forscherinnen und Forscher, die super sind, gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und tolle Unis. Aber wenn man ein neues Verfahren oder ein neues Medikament erproben will, dann gibt es zig verschiedene Ethikkommissionen, zig unterschiedliche Datenschutzregeln und -ämter und unzählige Bestimmungen der Europäischen Union, des Bundes und der Länder, die Forschung regeln. - Wir waren uns schnell einig: So kann das nicht bleiben.

Ohne gute Daten ist Forschung heute kaum noch möglich. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz macht deshalb Gesundheitsdaten leichter und schneller nutzbar, senkt bürokratische Hürden, senkt und erleichtert Forschung in Deutschland. Mit dem Medizinforschungsgesetz sorgen wir für Tempo in der klinischen Forschung und für schnellere Genehmigungen und Zulassungen, damit es für die Pharma- und Biotechunternehmen in Deutschland einfacher möglich wird, ihre Patente hier zu entwickeln und auch Arzneimittel hier zu produzieren. Dass das angenommen wird, zeigen Milliardeninvestitionen von Biotech- und Pharmaunternehmen in neue Forschungszentren und Produktionsstätten überall in Deutschland. Weniger Bürokratie und dafür mehr Freiheit für die Forschung – das ist der Weg, den wir gehen wollen.

Einen letzten Punkt möchte ich noch ansprechen, weil er zu einem modernen Forschungsland unbedingt dazugehört. Ein amerikanischer Gesprächspartner hat mir vor nicht allzu langer Zeit berichtet, dass die Hälfte der Doktoranden an US-Unis in MINT-Fächern nicht in den USA geboren wurde. Die meisten von ihnen bleiben nach ihrem Abschluss als hochqualifizierte Fachkräfte im Land. Auch als Unternehmensgründer sind sie oft extrem erfolgreich. Mehr als die Hälfte der US-Start-ups, die mehr als eine Milliarde Dollar wert sind, haben Einwanderer gegründet. Ich finde, Deutschland kann und muss sich daran ein Beispiel nehmen. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz haben wir das modernste Zuwanderungsrecht geschaffen, das es je in Deutschland gab.

Aber natürlich gibt es neben den Gesetzen noch eine weitere Hürde, gerade im Vergleich mit englischsprachigen Ländern. Das ist unsere schöne, aber komplizierte Sprache. Ich finde, sie darf kein Hindernis für Forscherinnen und Forscher und Hochschullehrer in Deutschland sein! Mit unseren Forschungseinrichtungen von Weltrang, mit unserer starken, innovativen Industrie, die Arbeitskräfte sucht, haben wir beste Voraussetzungen im Wettbewerb um die klügsten Männer und Frauen aus aller Welt. Deshalb möchte ich diesen Forschungsgipfel auch für einen Appell nutzen, an Sie, als Vertreter von Wissenschaft und Forschung, aber auch an die Verantwortlichen in den Bundesländern und den Hochschulen. Ich finde, dass deutsche Studierende Englisch sprechen und verstehen können müssen. Was auch immer man über den Schulunterricht in Deutschland sagt: Dafür reicht es. Deshalb ist es gut, wenn ihnen für ihre fachlichen Themen mehr fremdsprachliche Dozenten, Hochschullehrerinnen und Forscher zur Verfügung stehen, mit denen sie sich austauschen können. Ich meine das ganz genau so, nicht so, wie es ab und zu gemacht wird ‑ ein englischsprachiges Curriculum, bei dem lauter Leute die ganze Zeit Englisch sprechen ‑, sondern so, dass man einfach unterstellt: Wer in Deutschland Abitur hat und die Hochschulreife besitzt, der kann einem Vortrag auf Englisch folgen, der kann an einem Unterrichtsprogramm, an einem Forschungsprogramm mit einem Englisch sprechenden Dozenten teilnehmen. Dass wir die einfach akquirieren, ohne dass sie gewissermaßen halb verpflichtet werden, dann in deutscher Sprache über Philosophie, über Ingenieurswissenschaften, über Medizintechnik, über Physik oder Chemie zu sprechen, das könnte viel, viel mehr verbreitet sein, weil wir dann die Besten der Welt auch in unseren Forschungseinrichtungen akquirieren können, einfach, indem wir unterstellen: Hierzulande ist jeder in der Lage, der an einer Universität studiert oder forscht, auch Englisch zu sprechen und zu verstehen. Vielleicht würde uns das auch dazu führen, dass wir viele aus aller Welt attrahieren, um eine Zeitlang in Deutschland ihre wissenschaftliche Expertise voranzutreiben.

Weil Forschung und Innovation vom Austausch leben, will ich es hierbei erst einmal belassen. Ich habe eben gesagt, dass die Hannover Messe zeigt, warum wir zur Weltspitze gehören. Dazu gehört auch, dass wir uns als Land immer wieder neu erfinden. Danke für Ihren Einsatz für ein forschungsfreundliches und innovatives Deutschland! Sie haben mich dabei fest an Ihrer Seite! Nun freue ich mich auf die Diskussion. Schönen Dank!