Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Eröffnungssitzung des Gipfeltreffens des Europarats am 16. Mai 2023 in Reykjavík

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Liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren,

als der ehemalige französische Premierminister Édouard Herriot im August 1949 die Beratende Versammlung des Europarats eröffnete, waren die Wunden des Zweiten Weltkriegs noch ganz frisch. Herriot sprach vom "Recht der geballten Faust", vom "Kult der Gewalt", der unseren Kontinent ausgehend von Deutschland in Schutt und Asche gelegt hatte. Umso klarer war für Herriot und die anderen Väter und Mütter des Europarats, was sie diesem "Unrecht der geballten Faust" künftig entgegensetzen wollten: die Stärke des Rechts - über politische und kulturelle Grenzen hinweg -, die Überzeugung, dass Macht an Regeln und Gesetze gebunden sein muss und das Versprechen, dass alle Bürgerinnen und Bürger in ihren Rechten und Pflichten gleich sind.

Herriot und seine Generation hatten am eigenen Leib erlebt: Es gibt einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Rechtstaatlichkeit, Demokratie und dem Schutz der Menschenrechte auf der nationalen Ebene und dem friedlichen Miteinander auf der internationalen Ebene. Der Krieg, mit dem Deutschland Europa und die Welt überzog, wurde erst möglich, weil die Nationalsozialisten zuvor Demokratie, Gewaltenteilung und Menschenrechte in Deutschland auslöschen konnten.

Wer diesen Zusammenhang einmal erkannt hat, der begreift: Der Europarat ist heute so wichtig wie wohl niemals zuvor.

Am 24. Februar vergangenen Jahres hat Russland die Ukraine überfallen, um Territorium zu erobern und Grenzen mit Gewalt zu verschieben. Deshalb war es richtig, ja vollkommen unumgänglich, Russland aus dem Europarat auszuschließen.

Auch die Zusammenarbeit des Europarats mit Belarus haben wir aufgrund der Unterstützung des russischen Angriffskriegs durch das Minsker Regime zu Recht suspendiert.

Und um auch das klar zu sagen: Dass sich in Russland antidemokratische, autoritäre Entwicklungen durchsetzen konnten, spricht nicht gegen den Europarat, sondern dafür, dass wir unsere gemeinsamen Regeln künftig noch ernster nehmen, dass wir sie als Frühwarnsystem für den Friedenserhalt in Europa verstehen.

Konkret folgt daraus zweierlei:

Erstens. Jedes unserer Länder muss seinen Pflichten als Mitglied des Europarats nachkommen - ohne Abstriche. Dazu zählt, dass wir alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte konsequent umsetzen. Wir müssen eine vermeintliche Niederlage vor dem Gerichtshof in Straßburg in Wahrheit als Gewinn für Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten begreifen - und zwar überall in Europa, und dank der Vorbildfunktion des Gerichtshofs sogar oft überall auf der Welt.

Der Europarat war weltweit oft Pionier, wenn es darum ging, unsere Demokratien, unsere Rechtsstaaten auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Das sollte er bleiben, etwa wenn es um den Schutz von Menschenrechten im Digitalzeitalter oder die Durchsetzung des Rechts auf eine gesunde Umwelt geht.

Mein zweiter Punkt betrifft die Lehren, die wir als Europarat aus Russlands Angriff auf Europas Friedensordnung ziehen. Im Zentrum steht dabei, die Ukraine mit aller Kraft auf ihrem demokratischen, europäischen Weg zu unterstützen: bei der Verteidigung gegen die russische Aggression, bei der Sicherstellung rechtsstaatlicher Institutionen, beim Wiederaufbau, zum Beispiel auch über die Entwicklungsbank des Europarats, und durch Kapazitätsaufbau im Justizwesen.

Der Europarat ist auch wichtig, um die Kriegsverbrechen der russischen Besatzer zu ahnden und Rechenschaft für die enormen Schäden einzufordern, die Russland der Ukraine Tag für Tag zufügt. Das Schadensregister, das wir hier in Reykjavík gemeinsam auf den Weg bringen wollen, spielt dabei eine zentrale Rolle.

Eine Lehre der Zeitenwende ist auch, dass wir den Beitritt der Ukraine, aber natürlich auch der Westbalkanstaaten, Moldaus und perspektivisch Georgiens zur Europäischen Union voranbringen wollen. Auch dabei kommt dem Europarat eine wichtige Rolle zu - nicht zuletzt dank der großen Expertise der Venedig-Kommission.

Und schließlich muss der Europarat alles daransetzen, dass Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit irgendwann tatsächlich überall in Europa Fuß fassen. Mit Blick auf Russland und Belarus mag das heute nahezu unvorstellbar klingen. Doch irgendwann wird Russlands Krieg gegen die Ukraine enden. Und eines ist sicher: Er wird nicht mit einem Sieg des Putin’schen Imperialismus enden. Denn wir werden die Ukraine so lange unterstützen, bis ein gerechter Frieden erreicht ist.

Bis dahin sollten wir als Europarat Brücken aufrechterhalten zu den Vertretern und Vertreterinnen eines anderen Russlands, eines anderen Belarus, und so die Perspektive einer demokratischen, friedlichen Zukunft beider Länder offenhalten - so unwahrscheinlich sie uns heute auch erscheinen mag.

Dies entspricht der Gründungsidee des Europarats, wonach Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Inneren Hand in Hand mit Frieden nach außen gehen. Das entspricht auch unserem Anspruch, Frieden und Freiheit überall auf unserem Kontinent zu sichern - für jede Bürgerin und jeden Bürger.

Vielen Dank!