Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz, Ministerpräsidentin Kallas, Ministerpräsident Krišjānis Kariņš und Ministerpräsidentin Šimonytė zur Teilnahme des Bundeskanzlers am Treffen der Regierungschefinnen und Regierungschefs der baltischen Staaten am 26. Mai 2023

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Im Wortlaut Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz, Ministerpräsidentin Kallas, Ministerpräsident Krišjānis Kariņš und Ministerpräsidentin Šimonytė zur Teilnahme des Bundeskanzlers am Treffen der Regierungschefinnen und Regierungschefs der baltischen Staaten am 26. Mai 2023

in Tallinn

  • Mitschrift Pressekonferenz
  • Freitag, 26. Mai 2023

(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultandolmetschung.)

  

MP’in Kallas: Lieber Olaf, lieber Krišjānis, liebe Ingrida, liebe Journalistinnen und Journalisten, ein herzliches Willkommen an Sie alle in Tallinn! Zum letzten Mal haben wir uns in diesem Format vor einem Jahr, vor dem Madrid-Gipfel, getroffen. Das Jahr, das hinter uns liegt, war ein sehr intensives. Vieles ist getan worden; viele bedeutende Entscheidungen sind getroffen worden. Die Ukraine hat der Welt bewiesen, dass sie diesen Krieg gewinnen kann, mit der transatlantischen Familie direkt an ihrer Seite. Jeden Tag haben sich die russischen Gräueltaten aber fortgesetzt, Massenmorde, Deportationen, die Bombardierung von Zivilisten, auch von Kindern. Russland kopiert hier ganz deutlich das sowjetische Drehbuch, das wir in dieser Region allzu gut kennen.

Ich stamme aus einer Generation, die ohne Freiheit geboren ist. Jetzt haben wir Freiheit. Ich sehe das nicht als selbstverständlich. Freiheit ist in meinem Verständnis etwas, wofür man kämpfen muss. Deswegen spreche ich mich weiterhin für den Sieg der Ukraine aus. Sieg bedeutet, dass Russland zurückkehrt nach Russland. Der Sieg bedeutet, dass man sicherstellt, dass die Aggression in einer Niederlage endet. Siegen bedeutet, dass der russische Kreislauf der Gewalt und der Aggression gegen seine Nachbarstaaten durchbrochen wird. Je schneller Putin versteht, dass er seine Ziele nicht erreichen wird, desto schneller endet der Krieg.

Unsere Stärke liegt in unserer Einheit. Aber diese Einheit aufzubrechen, ist die Strategie des Kremls, um zu gewinnen. Wir werden beweisen, dass sie falsch liegen. Wir können Putin mit seinem Landraub nicht einfach gewähren lassen. Deswegen konzentrieren wir uns insbesondere auf Waffen, Munition und Ausbildung. Dies muss weitergehen in einem Ausmaß, in dem die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann. Danke, Olaf, für das neue 2,7-Milliarden-Euro-Hilfspaket an Militärhilfe für die Ukraine. Die Luftabwehrsysteme, die Deutschland geschickt hat, spielen eine wichtige Rolle bei der Verteidigung der Ukraine. Die Patriot-Systeme schützen den Himmel über Kiew und retten Leben.

Aber es geht nicht nur um die Ergebnisse auf dem Schlachtfeld. Nicht nur sie werden den Krieg entscheiden. Wir müssen dem Kreml zeigen, dass er die Ukraine und unsere Welt nicht einfach wirtschaftlich aussitzen kann. Der Sieg der Ukraine hängt also auch von unserer Möglichkeit ab, die russische Kriegsmaschinerie auszutrocknen und die Finanzflüsse für den Krieg zu unterbinden.

Es gibt einen Kampf für Freiheit und auch einen für Gerechtigkeit. Die Ukraine muss beide gewinnen. Ohne Rechenschaft wird der russische Kreislauf aus Gewalt nie durchbrochen werden. Straftaten, die straflos bleiben, führen nur zu neuen Straftaten. Russland wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Die Führungspersönlichkeiten in Russland, die Politiker heute in Russland, haben gesehen, dass ihre Vorgänger nie zur Rechenschaft gezogen worden sind für die Gräueltaten, die sie begangen haben.

Für Frieden in Europa brauchen wir eine geopolitische Europäische Union und eine starke, glaubwürdige Nato. Für Frieden in Europa brauchen wir die Ukraine in der EU und in der Nato. Wir haben in der Geschichte immer wieder gesehen, wie Grauzonen ein Nährboden für Kriege sind, während die Erweiterung der Nato und der EU Stabilität geschaffen haben. Die drei baltischen Staaten stehen dafür beispielhaft.

Für den Frieden in Europa brauchen wir auch eine deutsche Führungsrolle in der Nato, in der geopolitischen EU oder eben auch dabei, sicherzustellen, dass sich Europa militärisch verteidigen kann.

Meine Damen und Herren, der ukrainische Überlebenskampf ist auch ein Kampf für die Freiheit und die Würde Europas. Die russische Aggression kostet unsere Gesellschaften auch viel. Wir leben neben einem aussätzigen Staat. Das hat natürlich einen Preis. Wir müssen sicherstellen, dass zukünftige Aggressionen sofort zurückgeschlagen oder gleich abgewehrt werden. Kurz vor dem Vilnius-Gipfel brauchen wir einen starken regionalen Verteidigungsplan der Nato. Wir brauchen die notwendigen militärischen Kräfte. Die Ausgaben für die Verteidigung müssen von allen Alliierten gemeinsam getragen werden. Wir müssen das Geld auftreiben, um die europäische Verteidigungsindustrie zu stärken. Im Jahr 2022 haben sich die Verteidigungsausgaben der europäischen Alliierten tatsächlich um 11,6 Prozent reduziert und sind im Vergleich zu 2021 eben nicht gestiegen.

Estland nimmt seine Verpflichtungen als Alliierter sehr ernst. Wir erhöhen die Verteidigungsausgaben auf drei Prozent des BIP und stärken unsere nationale Verteidigung stetig weiter. Hierfür haben Estland und Lettland Verhandlungen mit einem deutschen Hersteller begonnen, um Luftabwehrsysteme mittlerer Reichweite gemeinsam zu beschaffen Das ist wirklich ein Meilenstein, um unseren Himmel besser zu schützen.

Gleichzeitig müssen wir die Zukunft sehen und uns fragen, wie wir unsere Anfälligkeiten und schlechten Abhängigkeiten durchbrechen können. Hierbei sprechen wir natürlich auch über die Energie. Estland möchte bis 2030 100 Prozent erneuerbaren Strom produzieren, und die Offshore-Windenergie ist hierfür natürlich eine Schlüsseltechnologie.

Ich freue mich, dass die deutsch-baltische Energiekooperation steigt. Ein Beispiel hierfür ist, dass sich unsere Übertragungsnetzbetreiber erst vor zwei Wochen dazu verpflichtet haben, eine Machbarkeitsstudie für ein neues Stromkabel nach Deutschland zu prüfen, dem Baltic Wind Connector, um unser Offshore-Potenzial zu nutzen und die Energiezusammenarbeit zu stärken.

Noch einmal herzlichen Dank, dass Sie heute hier sind. Ich freue mich, dass wir diese Pressekonferenz gemeinsam abhalten können. - Vielen Dank.

BK Scholz: Guten Abend, meine Damen und Herren. Liebe Kaja, ich bedanke mich bei Dir ganz herzlich für die Einladung heute nach Tallinn. Es ist mein erster Besuch als Bundeskanzler in Estland, und ich freue mich wirklich sehr, hier zu sein, nicht nur wegen der historischen hanseatischen Verbindungen, die mich in meinem Leben früher schon geprägt haben, sondern weil die Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern sehr gut ist.

Estland, Lettland und Litauen arbeiten in der Europäischen Union und in der Nato sehr eng und vertrauensvoll mit Deutschland zusammen. Wir sind militärische Verbündete, europäische Partner und Freunde. Und Freunde stehen einander in der Not bei.

Die Sicherheitslage hier im Baltikum, an der Ostflanke der Nato, bleibt heikel. Deshalb haben Deutschland und andere Alliierte im vergangenen Jahr beschlossen, Einheiten hierher zu verlegen, um diese Sicherheitslage zu verbessern.

Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis, das gegen niemanden gerichtet ist. Ihre Mitglieder sichern im Falle eines militärischen Überfalls gegenseitig Beistand zu. Das ist unsere Mission. Um es hier noch einmal klar zu sagen: Wir sind bereit, jeden Quadratzentimeter Nato-Territoriums gegen Angriffe zu verteidigen. So habe ich es vor knapp einem Jahr bei unserem Treffen in Vilnius formuliert, und so sage ich es heute in Tallinn gern wieder. Das meine ich genauso, wie ich es hier sage.

Die nötigen Schritte haben wir eingeleitet. Wir richten die Bundeswehr konsequent auf die Verteidigung Zentral- und Nordosteuropas aus. Indem wir die Verteidigung unserer Verbündeten stärken, erhöhen wir die Sicherheit für das gesamte Bündnis und damit für Europa. Darum geht es.

Das hat sehr konkrete Konsequenzen. In Estland beteiligen sich die Eurofighter unserer Luftwaffe seit Jahren schon an der Überwachung des Luftraums. In Litauen unterstützen 700 deutsche Soldatinnen und Soldaten ihre litauischen Kameradinnen und Kameraden. Dort hat die Bundeswehr im Nato-Rahmen die Führungsverantwortung übernommen. Zusätzlich haben wir eine deutsche Kampfbrigade für die Verteidigung abgestellt. Teile dieser Brigade werden in den kommenden Wochen erneut für eine Übung nach Litauen verlegt werden. Im vergangenen Jahr habe ich die Truppe nahe Vilnius besuchen können. Unsere Marine hat ihre Präsenz mit Schiffen in der Ostsee erhöht, und fast 17 000 unserer Soldatinnen und Soldaten stehen bereit, im Rahmen der Nato Response Force unseren Alliierten im Notfall rasch Beistand zu leisten.

All das zeigt: Auf den russischen Überfall auf die Ukraine und die anhaltenden Aggressionen Moskaus haben Nato und Europäische Union schnell, entschlossen und gut koordiniert reagiert. Der russische Präsident hat sich verkalkuliert. Er wollte Europa spalten, und er hat doch unsere Einigkeit erhöht. Er wollte die Nato schwächen und hat das Gegenteil erreicht. Seit mehr als 15 Monaten verteidigt sich die Ukraine tapfer gegen die russische Aggression.

Damit die Ukraine in diesem Kampf bestehen kann, unterstützen wir sie nach Kräften - humanitär, politisch, finanziell, aber eben auch mit Waffen. Diese Solidarität ist ungebrochen. Wir werden auch den Sanktionsdruck gegen Russland weiter verschärfen und weitere Vorkehrungen dafür treffen, dass diese Sanktionen nicht umgangen werden können. So haben wir es zuletzt beim G7-Treffen in Japan bekräftigt, und das werden wir auch als Europäische Union tun.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal deutlich sagen: Gemeinsam mit unseren Freunden hier im Baltikum, in der gesamten Europäischen Union und gemeinsam mit unseren internationalen Partnern stehen wir weiterhin eng an der Seite der Ukraine. Wir werden sie so lange unterstützen, wie das nötig sein wird. Russland muss erkennen, dass dieser Krieg sinnlos ist, und Truppen zurückziehen; sonst kann es keinen Frieden geben.

MP Kariņš: Vielen Dank für die Diskussionen am heutigen Tage! Lassen Sie mich ein paar Dinge anmerken. Als führende Politiker der liberalen Demokratien verstehen wir, wie wichtig Menschenrechte sind, wie diese Rechte definiert werden und wie sie verteidigt werden müssen. Wir befinden uns in einem Lernprozess. Damit liberale Demokratien gedeihen können, müssen wir stark sein. Wir müssen nicht nur in unseren moralischen Überzeugungen stark sein, sondern auch auf militärischer Ebene, damit wir, sollte es dazu kommen, diese Rechte auch verteidigen können, unsere Art und Weise, wie wir leben.

Wir stehen hier in Europa im wunderschönen Tallinn, genießen den schönen Frühsommer hier. Aber nicht weit von hier, in der Ukraine, hat Russland jetzt seit über einem Jahr einen Krieg gegen die Ukraine geführt, einen nicht zu rechtfertigenden Krieg. Die Ukraine hat sich nie über ihre Grenzen hinwegbewegt, hat nie ihre Nachbarn bedroht. Aber Russland versucht, die Ukraine zu zerstören. Heute haben wir wieder die Bombardierung von ziviler Infrastruktur gesehen. Ein Krankenhaus ist bombardiert worden; wieder einmal ein Verstoß gegen Menschenrechte. Das können wir nicht hinnehmen.

Was Putin im letzten Jahr getan hat, hat nicht zu dem geführt, was er vielleicht erwartet hat. Er hat uns in der Tat stärker gemacht. Wir stehen vereint. Er hat die Europäische Union enger zusammengebracht, und er hat der Nato neues Leben eingehaucht. Jetzt liegt es an uns, uns noch stärker aufzustellen, als wir heute schon sind.

In Lettland konzentrieren wir uns bezüglich unserer militärischen Kapazitäten auf fünf wichtige Punkte. Wir kaufen neue militärische Ausrüstung, Raketensysteme vom Typ HIMARS mit mittlerer Reichweite und Luftverteidigung. Wir haben die Entscheidung getroffen, dass wir das IRIS-T-System aus Deutschland anschaffen werden. Wir bauen eine neue Militärbasis im Süden unseres Landes, und wir führen die Wehrpflicht wieder ein, mit dem Ziel, dass wir in den nächsten Jahren drei Prozent des BIP für die Verteidigung ausgeben werden. Wir tun also alles, damit wir stärker aufgestellt sind.

Aber alleine stärker dazustehen, reicht nicht aus. Es liegt an uns allen in der Nato, uns so aufzustellen. Deswegen müssen alle Nato-Alliierten mindestens das Zwei-Prozent-Ziel hinsichtlich der Militärausgaben erreichen und möglichst noch darüber hinausgehen, so wie wir das auch tun.

Das Thema Ukraine kommt immer wieder auf. Was für uns ganz besonders wichtig ist und was wir tun müssen, ist, dass wir in der EU, in der Nato zu 100 Prozent klar sind, dass wir die Ukraine unterstützen, so lange es nötig ist, bis sie ihr Land befreien können und die russische Aggression endet. Das bedeutet, dass dafür Geld benötigt wird, Munition, Waffen, humanitäre Hilfe, alle möglichen Arten der Unterstützung. Wir müssen verstehen, dass „so lange wie nötig“ auch heißen kann, dass das wirklich lange dauern kann und nicht nur eine Frühjahrsoffensive ist, und dann ist es vorbei. Wir müssen uns in unseren Gesellschaften wirklich stählen, um dieses Ziel zu erreichen.

Warum ist das so wichtig? Wenn wir als kollektiver Westen nicht erfolgreich sind und diese staatliche Aggression gegen einen Nachbarn zurückdrehen, dann wird die Welt für alle gefährlicher. Deswegen bin ich überzeugt, dass die Ukraine am Ende des Tages, wenn der Krieg in der Ukraine einmal vorbei sein wird und die Ukraine gewonnen haben wird, ein Mitglied der Nato werden sollte und muss. Der Grund ist ganz einfach: Das ist die einzige Möglichkeit, sicherzustellen, dass Russland nie wieder einen Krieg anfängt, wenn das hier einmal vorbei ist. Ich betone es noch einmal: Putin und Russland respektieren nur Stärke, sie verstehen nur Stärke. Eine Mehrdeutigkeit gegenüber Russland ist Schwäche. Das muss enden.

Man könnte sagen, dass wir vielleicht als kollektiver Westen früher hätten reagieren können, als Russland den Krieg in Georgien begonnen hat oder als Russland 2014 den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat. Wir hätten stärker reagieren sollen. In einem gewissen Sinne zahlt jetzt die Ukraine und zahlen wir alle im Westen einen Preis für dieses verspätete Handeln. Was ich sage, ist, dass wir jetzt greifen müssen: Wir müssen aus unseren gemeinsamen Fehlern lernen. Wir müssen die Ukraine nicht nur heute unterstützen, sondern sicherstellen, dass in der Zukunft, wenn dieser Krieg endet, Russland diesen Krieg oder solch einen Krieg nicht noch einmal beginnt. Das ist wichtig für uns alle in Europa, nicht nur in den baltischen Staaten. Jeder in Europa muss verstehen, dass wir einen dauerhaften Frieden brauchen, und dieser Frieden kann nur durch unsere eigene Stärke herbeigeführt werden. Wir dürfen nicht ängstlich sein! Wir sollten diese Stärke aufbauen - in dem Sinne, in dem sie eben nötig ist.

MP’in Šimonytė : Vielen Dank, liebe Kaja, für die Ausrichtung dieses heutigen Treffens. Die Abstimmung zwischen den baltischen Staaten und Deutschland ist wirklich immer sehr wichtig, insbesondere aber angesichts der russischen Aggression in der Ukraine, die sich weiter fortsetzt. Ich hoffe, dass wir uns nie an diese schrecklichen Kriegsbilder gewöhnen und dass wir auch nie in eine Art Müdigkeit bei der Hilfe für die Ukraine eintreten, um diesen russischen imperialistischen Wahn zu bekämpfen; sonst wird sich Russland noch weiter nach Europa ausbreiten. Nur die Einheit der Demokratien, unsere militärische Bereitschaft und die Rechenschaftspflicht für die Täter der Aggression können diesen Teufelskreis der russischen Kriege durchbrechen.

Militärische Hilfe für die Ukraine ist eine Hilfe für die Freiheit, für die Werte, für die wir stehen. Das ist auch eine Investition in den Frieden und europäische Sicherheit. Die Schrecken des Kriegs erreichen uns in der EU heute nicht, und zwar aufgrund der heroischen Aktionen der ukrainischen Menschen. Die Ukraine verteidigt auch unsere Freiheit und die internationale Ordnung, die auf der Rechtsstaatlichkeit beruht. Die Waffenlieferungen an die Ukraine, die so dringend benötigt werden, sind also sehr, sehr wichtig, um den Frieden zu erreichen.

Wir, die euroatlantische Gemeinschaft, müssen verstehen, dass sich Russland auf eine langfristige Konfrontation mit der Nato und mit der demokratischen Welt einstellt. Deswegen ist es absolut notwendig, dass wir die Sicherheit des Bündnisses verstärken, die Verteidigungskapazitäten ausbauen und dafür ausreichende Finanzierung bereitstellen. Die neue geopolitische Situation und die Bedrohung durch Russland bedeuten, dass wir uns nicht mehr den Luxus leisten können, nur schrittweise voranzugehen. Die Entscheidungen müssen schnell getroffen werden, und sie müssen mutig getroffen werden. Das ist aufgrund unserer besonderen geographischen Lage in der Nachbarschaft von Kaliningrad und Belarus sowie der Suwalki-Lücke besonders wichtig für die baltischen Länder.

Ich möchte hier auch noch einmal auf die jüngsten Entwicklungen in unserer Region hinweisen. Jetzt gibt es noch einmal ein nukleares Säbelrasseln in unserer Nachbarschaft, diesmal in Belarus; ein verzweifelter Versuch, die internationale Gemeinschaft einzuschüchtern. Aber wir lassen uns nicht einschüchtern. Leider ziehen diese Aktionen Belarus noch weiter in die Konfrontationen mit der demokratischen Welt hinein.

Im Hinblick auf den Vilnius-Gipfel ist es wichtig, nicht nur die Nato-Verteidigungspläne zu verabschieden, sondern auch, diese entsprechend finanziell zu unterfüttern. Die ganze Ostflanke muss mit bodengestützter Luftabwehr ausgestattet werden. Wir müssen in Vilnius Entscheidungen treffen, um die Luftabwehrkapazitäten in der Region zu stärken. Unsere wichtigste Priorität sollte gute Abschreckung sein, sodass der Aggressor gar nicht erst darüber nachdenkt, die Entschlossenheit der Nato zu testen, jeden Quadratzentimeter Territorium zu verteidigen.

Dafür brauchen wir auch entsprechende Kräfte vor Ort, Soldatinnen und Soldaten vor Ort. Ich möchte Deutschland und Bundeskanzler Scholz sehr herzlich dafür danken, dass sie sich stetig dafür eingesetzt haben, die Sicherheit der Region und Litauens zu stärken, sowie für die verstärkte Zusammenarbeit in diesem Bereich. Litauen und auch die anderen baltischen Staaten machen ihre Hausaufgaben. Wir bauen die Infrastruktur für Unterkunft für Soldatinnen und Soldaten, Ausbildung und Ausrüstungslagerung. Das erhöht die Sicherheit in dieser Lage bedeutend.

Wir haben schon gesehen, dass die Schaffung von Grauzonen oder grauartigen Zonen zu sehr gefährlichen Entwicklungen führt. Deswegen ist es so wichtig, dass wir die Ukraine unterstützen und die euroatlantischen Perspektiven ganz klar öffnen.

Ich möchte noch einmal meiner Kollegin sehr herzlich für die Ausrichtung des Treffens danken und meinen Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich für den Austausch.

Frage: Eine Frage an Sie alle. Was, denken Sie, sollten die Vorbedingungen für Friedensverhandlungen sein? Kann es Verhandlungen geben, bevor die Ukraine all ihr Territorium wieder befreit hat?

BK Scholz (auf Englisch): Ganz kurz zu Ihrer Frage: Es steht völlig außer Frage, dass das kein eingefrorener Konflikt werden darf. Wenn Russland denkt, man könne mit diesem Landraub in der Ukraine durchkommen, dann wird Russland mit diesem Versuch nicht durchkommen. Deswegen unterstützen wir die Ukraine so lange es nötig ist. Russland muss seine Truppen zurückziehen. Das ist die Grundlage für den Frieden.

MP’in Kallas: Daran kann ich direkt anknüpfen. Ich stimme dem völlig zu. Es liegt natürlich an der Ukraine, zu entscheiden, wann dieser Krieg enden wird und wann es ihnen möglich ist, in Verhandlungen einzutreten. Aber wie Olaf Scholz gerade gesagt hat: Ein eingefrorener Konflikt wäre nur ein Nährboden für zukünftige Konflikte. Und das können wir nicht zulassen. Deswegen müssen wir diese Graubereiche in Europa und auch in der Ukraine beenden.

MP Kariņš: Ich glaube, ich kann direkt an das anknüpfen, was meine beiden Kollegen gesagt haben. Die Entscheidung für jede Art von Verhandlungen liegt natürlich bei der Ukraine. Aber ganz offensichtlich würde man damit beginnen, dass die Ukraine dafür vollständig befreit sein müsste. Ich beziehe mich noch einmal auf Präsident Selensky, der sein Verständnis des Friedens in seiner Friedensinitiative erläutert hat. Ich denke, das wäre der Ausgangspunkt.

Frage: Zunächst einmal eine Frage an Premierministerin Šimonytė. Ihr Land richtet im Juli den Nato-Gipfel aus. Die Ukraine erwartet, dass die Nato den Boden für ihre Mitgliedschaft in der Allianz bereitet. Sie erwarten eine offizielle Einladung in die Nato. Was erwarten die baltischen Staaten hier von Deutschland? Erwarten Sie, dass Deutschland diesem Wunsch der Ukraine entsprechen wird?

Herr Bundeskanzler, Sie waren das letzte Mal vor einem Jahr im Baltikum. Sie waren in Vilnius und haben - Sie haben es eben schon erwähnt - eine Kampftruppenbrigade zum Schutz des Landes zugesagt. Diese Brigade umfasst 3000 bis 5000 Soldaten. Litauen erwartet, dass alle diese Soldaten auf litauischen Boden stationiert werden. Können Sie das für den Fall zusagen, dass Litauen die Infrastruktur dafür schafft?

Aus aktuellem Anlass eine zweite Frage, wenn ich darf: Es hat am Mittwoch einen Sicherheitszwischenfall auf dem Frankfurter Flughafen gegeben. Ein Mann ist Ihrer Kolonne gefolgt und hat Sie dann umarmt. Wie haben Sie das empfunden? War das ein Schockmoment für Sie? Muss das Konsequenzen haben?

MP’in Šimonytė: Vielen Dank für Ihre Frage. Ich knüpfe kurz daran an, dass keinem Land, das einer Allianz beitreten muss, das einfach verwehrt werden kann. Dabei geht es dann um die konkrete Situation, um die Konditionen. Wir haben jetzt einen heißen Krieg, der sich in der Ukraine vollzieht. Es wäre natürlich sehr enttäuschend, wenn das Ergebnis des Vilnius-Gipfels als Sieg Russlands gelesen werden könnte, indem der Ukraine der Weg in die Nato verwehrt bleibt. Wichtig ist aber, dass die Teilnehmer am Gipfel die richtigen Worte finden und den richtigen Weg aufzeigen, um dem gerecht zu werden, auch in den Entscheidungen beim Gipfel.

BK Scholz: Schönen Dank für die Fragen. Zunächst einmal wird es in Vilnius vor allem darum gehen, die konkrete Unterstützung für die Ukraine in dieser Situation zu organisieren. Das heißt, dass wir als Mitgliedstaaten unsere Bereitschaft weiter fortsetzen, die Ukraine zu unterstützen, was im Fall von Deutschland ja doch sehr viel ist. Unsere Unterstützung hat mittlerweile 17 Milliarden Euro ausgemacht. Wir haben gerade ein weiteres Paket von 2,7 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Genau das werden wir auch weiter machen. Die Frage, um die es jetzt geht, ist, wie wir die Kooperation in der konkreten Situation des russischen Angriffs auf die Ukraine verbessern können und wie wir klarmachen können, dass wir diese Unterstützung so lange aufrechterhalten werden, wie das notwendig ist.

Was die Frage der Beiträge zur Unterstützung der Länder an der Ostgrenze der Nato betrifft, sind wir hier im Baltikum - aber nicht nur da; das will ich ausdrücklich sagen - sehr vielfältig unterwegs. Wir haben unsere Unterstützung vielfältig ausgebaut. Dazu gehört auch die Präsenz von Soldaten in Litauen und auch, dass jetzt dort die Infrastrukturen entwickelt werden. Wir haben außerdem zugesagt, dass wir die Strukturen schaffen werden, um immer sehr schnell Truppen dorthin verlegen zu können. Das wird jetzt ganz konkret mit der dafür bereitgestellten Mannschaft geübt. Das ist wichtig, weil das ja immer jederzeit möglich sein muss. Ansonsten machen wir das als Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Entscheidungen, die die Nato dazu zu treffen hat.

Was die Frage betrifft, dass mir Leute Guten Tag sagen und mich begrüßen, ist das nie etwas, was mich besonders beeindruckt. Das ist ganz normal. Ich habe auch diese Situation nicht als dramatisch empfunden.

Zusatzfrage: Wird das Konsequenzen haben?

BK Scholz: Die Polizei leistet gute Arbeit. Ich fühle mich in sicheren Händen.

Frage: Die Frage richtet sich an Sie alle. Was halten Sie von der möglichen Übertragung von Kampfhandlungen auf russisches Territorium? Für die ukrainischen Streitkräfte mag das taktisch sinnvoll sein. Aber die Ukraine benutzt westliche beziehungsweise deutsche Waffensysteme, darunter Panzer. Was halten Sie davon, wenn die Panzer eines Tages auf russisches Territorium rollen? Danke.

BK Scholz: Russland hat die Ukraine angegriffen. Deshalb kann die Ukraine sich auch verteidigen. Wir unterstützen die Ukraine auch mit Waffen. Das tut nicht nur Deutschland; das tun die USA; das tun viele andere Länder. Gleichzeitig ist klar, dass die Waffen, die wir geliefert haben, nur auf ukrainischem Territorium eingesetzt werden. Sie erinnern sich an die entsprechende Aussage des amerikanischen Präsidenten, die er öffentlich in der „New York Times“ gemacht hat. Die gilt auch unverändert. Die Waffen, die wir liefern, sind für den Einsatz zur Verteidigung auf ukrainischem Boden.

MP’in Kallas: Die Charta der Vereinten Nationen besagt, dass jedes Land das Recht auf Selbstverteidigung hat. Das bedeutet, dass es auch die Mittel haben muss, sich selbst zu verteidigen. Das bedeutet, dass die Ukraine die Waffen, die sie erhalten hat, benutzen kann. Die Ukraine hat keinerlei Wunsch, in Russland einzufallen. Das ist völlig klar. Hier gibt es einen Aggressor und ein Opfer. Es ist völlig im Einklang mit der Uno-Charta, das jedes Land das Recht hat, sich selbst zu verteidigen. Wie das militärisch geschieht, ist dann eine andere Frage.

MP Kariņš: Auch vor dieser Phase des Krieges hat Lettland Waffen an die Ukraine geliefert: Panzerabwehrraketen, die in den ersten Tagen des Krieges zur Verteidigung von Kiew genutzt worden sind. Die Ukraine wird angegriffen. Kaja hat das absolut korrekt dargestellt: Sie haben das absolute Recht, sich zu verteidigen. Wir haben eine Verantwortung, ihnen zu helfen, sich zu verteidigen. Es ist absolut klar, dass die Ukraine nicht dabei ist, Russland anzugreifen. Der Ukraine ist daran gelegen, ihr eigenes Land zu verteidigen.

MP’in Šimonytė: Dem habe ich nicht viel hinzuzufügen. Russland führt diesen Krieg. Dann ist es ja recht komisch, zu denken, dass der Krieg ganz alleine in diesem anderen überfallenen Territorium stattfindet. Es gibt manchmal auch Zwischenfälle auf eigenem Grund und Boden. Ich werde nicht zu den Details der Waffenlieferungen Stellung nehmen, insbesondere nicht zu Kriegsgerät und Ähnlichem. Aber ich denke, wir sollten uns über Russland keine Sorgen machen. Es ist schon oft zu Recht gesagt worden, dass hier die Uno-Charta greift. Diese erlaubt es der Ukraine, sich selbst zu verteidigen. Genau das tut die Ukraine.

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