Kanzler im Interview mit der Süddeutschen Zeitung
Kanzler Scholz hat mit der Süddeutschen Zeitung über seine Leidenschaft fürs Lesen gesprochen – und über Bücher, die ihn geprägt haben. Welche das sind? „Da wechseln sich die Phasen ab. Mal sind es Romane, dann mehr Sachbücher, manchmal lese ich auch Comics“, so der Kanzler. Welches Buch ihn besonders gerührt hat und mit welchem Staatschef er seine Begeisterung teilt, können Sie hier im ganzen Gespräch nachlesen.
- Interview mit Bundeskanzler Olaf Scholz
- Sueddeutsche Zeitung
Herr Bundeskanzler, wissen Sie noch, welches das erste Buch war, das Sie als Kind gelesen haben?
Bundeskanzler Olaf Scholz: Nein, das ist doch zu lange her. Meine Eltern haben sich immer sehr darum bemüht, dass wir Kinder lesen. Bei uns Zuhause standen die Klassiker der Kinderliteratur im Regal und auch schon modernere Werke wie „Krabat“ von Ottfried Preußler.
Sie erwähnten schon mal Karl May…
Scholz: Karl May war wichtig, die Bücher habe ich alle gelesen – Winnetou, Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und so weiter. Später habe ich mir in der Stadtbücherei die Bände von Captain Horatio Hornblower ausgeliehen. Die Abenteuergeschichten dieses Seefahrers hatten es mir wirklich angetan. Überhaupt bin ich gerne in die Bücherei gegangen. Irgendwann habe ich Bücher entdeckt, die bei meinen Eltern im Regal standen, auch wenn sie oft noch nicht für mein Alter gedacht waren.
Musste Ihre Mutter sie ermahnen, das Licht auszumachen oder haben Sie sich mit der Taschenlampe unter der Bettdecke versteckt?
Scholz: Bestimmt hat es mal eine Ansage gegeben, am Abend das Buch wegzulegen. Ich bin ja mit zwei Brüdern aufgewachsen und wir haben uns lange ein Zimmer geteilt – insofern galt es da ohnehin Rücksicht zu nehmen. Es ist aber auch vorgekommen, dass wir uns miteinander verbündet und alle zusammen heimlich länger gelesen haben.
So beginnt Ihre Biografie als Leser und Sie hören bis heute nicht damit auf.
Scholz: Warum auch? Ich lese einfach sehr gerne. Mal mehr, mal weniger, mal sind es mehr Romane – dann wieder mehr Sachbücher. Die Phasen wechseln sich ab. Ich hatte mal eine intensive Science-Fiction-Phase. Als stellvertretender Juso-Vorsitzender fuhr ich damals oft mit dem Zug von Hamburg nach Bonn oder zurück. Für die langen Fahrten habe ich mir am Bahnhofskiosk oft ein Buch gekauft – oft von Frank Herbert oder Douglas Adams...
Lasen Sie Science-Fiction nur wegen dieser Umstände oder fanden Sie es auch interessant?
Scholz: Für mich hat das gut zur Fahrt im Nachtzug gepasst. Ich fand viele Geschichten interessant, weil sie den Blick in eine andere Zukunft ermöglichten. Ich habe damals sehr viel Science-Fiction gelesen – berühmte wie weniger berühmte Werke. Ich hatte eine ganze Kiste voll davon – wo die letztlich abgeblieben ist, weiß ich gar nicht mehr.
Gab es die Bücher, die Sie auch in emotionaler Hinsicht politisiert haben, etwa Werke von Heinrich Böll oder Günter Wallraff?
Scholz: Nicht so sehr… Mich haben eher die klassischen politischen Werke beschäftigt. Ich hatte das Glück, sehr engagierte Lehrerinnen und Lehrer zu haben. Sie gaben sich viel Mühe mit Vorschlägen, wo wir mal reinschauen sollten. Dazu gehörte beispielsweise Urs Jaeggis „Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik“, was heute wohl kaum noch jemand liest. Die ersten Bücher des Club of Rome beschäftigten mich damals ebenfalls, über Klimawandel und Umweltverschmutzung. Und eine Reihe von Büchern über die Gleichstellung las ich von Autorinnen wie Simone de Beauvoir, Anja Meulenbelt oder den Roman „Die Töchter Egalias“ von Gerd Brantenberg. Viele Themen sind heute noch aktueller als damals. Und in meiner Juso-Zeit habe ich mich selbstverständlich durch die Gesamtheit der marxistischen Literatur gewühlt. (lacht)
Bereuen Sie das heute?
Scholz: Keine Spur, auch wenn ich einiges heute natürlich anders bewerte. Ausgenommen Habermas, dem konnte ich damals wie heute viel abgewinnen. Sich mit volkswirtschaftlichen Fragen aus allen Richtungen zu beschäftigen, weitet den Blick – und darum geht es doch. Ende der 1980erJahre schied ich bei den Jusos aus und es begann eine Zeit, die ich als eine Art Entgiftung vom politischen Betrieb empfunden habe. In dieser Phase las ich fast ausschließlich Romane – von Christa Wolf, Elfriede Jelinek, Mario Vargas Llosa, Isabelle Allende, Gabriel Garcia Marquez, Tom Wolfe, Bruce Chatwin, Paul Bowles, und von ihm angeregt, vieles aus Nordafrika. Ich las kreuz und quer, ohne System.
Wo stehen die ganzen Bücher, die Sie im Laufe eines Lebens gelesen haben? Hier im Kanzlerbüro ist ja nicht viel davon zu sehen.
Scholz: Tja, hier lese ich Akten. Die älteren Bücher sind zumeist in Hamburg. Was sich jetzt neu ansammelt, kommt ins Regal in die Potsdamer Wohnung. Aber auch nicht mehr alles. Manche Bücher habe ich aussortiert, weil kein Platz mehr in der Bücherwand war. Und nicht jedes ausgeliehene Buch findet wieder den Weg zu mir zurück…
Wie liest der Kanzler eigentlich – im Sitzen, im Liegen, im Flugzeug? Am Schreibtisch?
Scholz: Im Liegen eher nicht. Wenn man sich konzentrieren möchte, ist es besser, eine aufrechte Haltung einzunehmen. Also: Ich lese auf dem Stuhl, im Sessel, auf der Fensterbank, im Auto und im Flugzeug. Früher habe ich auch einfach auf dem Boden gesessen, an der Wand gelehnt und gelesen.
Gibt es Bücher, die Ihr Menschenbild, Ihren Blick auf die Welt entscheidend geprägt haben?
Scholz: Eindeutig ja, Bücher vermitteln doch viele unterschiedliche Perspektiven jenseits der eigenen Erlebnisse – „Ein Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, Gavino Leddas „Padre Padrone“ oder James Baldwins „Von dieser Welt“ fallen mir spontan ein. Das ist ja das Tolle an der Literatur, dass sie einen teilhaben lässt an Erfahrungen, die man nicht selber hat und oft auch nicht selber haben möchte. Ich empfinde Bücher als wunderbare Ergänzung zu all den Gesprächen, die ich als Politiker natürlich ständig mit Bürgerinnen und Bürgern führe – in Begegnungen, bei Veranstaltungen oder einfach so auf der Straße. All diese Gespräche vermitteln mir als Politiker verschiedene Einblicke und Ansichten von Bürgerinnen und Bürgern, die ganz anders leben als ich. Bücher ergänzen meine Erfahrungen um eine literarische Komponente, das will ich nicht missen.
Für Sozialdemokraten war lange Zeit die von Günter Grass propagierte Deutung von Albert Camus‘ Mythos des Sisyphos wichtig: Dass man sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen müsse. Hat Sie diese Idee auch geprägt?
Scholz: Ich glaube ganz fest, dass Arbeit und Mühe unser Leben prägen und dass das zu unserer Humanität dazugehört. Aber die Idee vom Glück des Sisyphos ist mir doch ein bisschen zu schlicht. Ich bin grundsätzlich eher zuversichtlich und glaube, dass Dinge öfter gut ausgehen. Ich verstehe, was mit dem Bild vom glücklichen Sisyphos gemeint ist, weil es für eine Beharrlichkeit steht, ein Nicht-Aufgeben und Immer-Weitermachen. Mir gefällt aber weniger, dass die Idee einer Vergeblichkeit menschlichen Mühens mitschwingt. Die teile ich ausdrücklich nicht. Ich glaube daran, dass die Arbeit glückt und der Stein auch mal oben bleibt. Auch wenn ein nächster Stein unten schon wieder warten mag.
Einige Autoren, die Sie häufiger zitieren, sind alles andere als Sozialdemokraten: Vargas Llosa ist ein Liberaler der rechten Mitte, J.D. Vance, Autor von Hillbilly Elegy, wurde auf dem Trump-Ticket Senator und Didier Eribon, der die „Rückkehr nach Reims“ schrieb, zählt sich zur radikalen Linken. Schauen Sie bei der Lektüre nach der politischen Ausrichtung der Verfasser?
Scholz: Nein, im Gegenteil, mich reizt das Neue, Unbekannte. Wenn ich nur lese, was meiner Meinung entspricht, würde ich mich um das eigentliche Abenteuer des Lesens bringen. Und im Prinzip ist genau das der Fluch der Sozialen Medien: dass wir es uns gemütlich in unseren Blasen einrichten können, wo wir nur Dinge vorgeschlagen bekommen, die zu dem passen, was wir schon immer richtig fanden. Das Besondere ist aber das Neue, Unbekannte. In eine Buchhandlung zu gehen und Bücher zu kaufen, die man sich gar nicht vorgenommen hatte zu kaufen. Die Zeit fürs Stöbern nach Büchern habe ich jetzt leider nicht mehr. Nun muss ich mich auf die Feuilletons verschiedener Zeitungen und Magazine und deren Empfehlungen verlassen. Und auch auf Empfehlungen meiner Frau. Was die genannten Autoren betrifft, lassen sich politische und intellektuelle Wandlungen schön beobachten: Vargas Llosa hat als junger Kommunist begonnen, wurde dann ein Neoliberaler und das prägt sein ganzes Werk. Aber was ich an ihm schätze, ist die Humanität, die da durchscheint, die große Menschenliebe, von der sein Werk geprägt ist. J.D. Vance indes begann als Anti-Trumpist und hat sich dann hin zum Trumpisten entwickelt, was ein bisschen tragisch ist.
Es heißt, Hillbilly Elegy habe Sie sehr gerührt, sogar zu Tränen. Stimmt das?
Scholz: Ja, es ist eine ganz berührende persönliche Geschichte, wie sich ein junger Mann mit schlechten Startbedingungen durchschlägt. Leider kann man darüber heute mit dem Autor wohl nicht mehr diskutieren, fürchte ich. Darin besteht die Tragik: Von einem selbsterklärten konservativen Gegner Donald Trumps, der messerscharf die Ungerechtigkeiten der amerikanischen Gesellschaft analysiert und für sich nur mit Glück und seiner Militärlaufbahn einen Ausweg findet, scheint sich Vance nun zu einem feurigen Befürworter dieses Rechtspopulisten gewandelt zu haben, um dessen Unterstützung zu erhalten – und selbst Senator zu werden. Das mag auch ein Ergebnis des amerikanischen Wahlsystems zu sein: diese Polarisierung und die unglaublichen Finanzmittel, die man mobilisieren muss, um erfolgreich zu sein. Barack Obama hat in seinem Buch „The Audacity of Hope“ mal aufgeschrieben, was allein die Nominierung für einen Sitz im Senat kostet. Wenn ich einem US-Politiker sage, dass der letzte Bundestagswahlkampf in Deutschland für meine Partei ungefähr 15 Millionen Euro gekostet hat, schauen die mich ungläubig an. Für so eine Summe kann man in den USA kein relevantes politisches Amt erreichen.
Hat das Vance-Buch Ihnen dabei geholfen, die Ursachen des Trumpismus zu verstehen?
Scholz: Ja. Und es hat mir auch geholfen, mein eigenes Verständnis für das zu schärfen, was für eine moderne, fortschrittliche, ich würde sagen sozialdemokratische Politik im 21. Jahrhundert wichtig ist: All die vielen, die arbeiten, sich anstrengen und den Laden am Laufen halten, müssen relevant bleiben. Sie müssen die Aussicht auf eine gute Zukunft für sich und ihre Kinder haben und Respekt erfahren. Sehr eindrücklich hat das Michael Young in seinem Buch „Meritocracy“ beschrieben. Im Jahr 1958, meinem Geburtsjahr, schrieb er eine Satire über England, die im Jahr 2034 spielt und den Aufstand derer beschreibt, die keinen Hochschulabschluss haben. Die Moral: Es gibt viele gelungene Lebenswege und nicht zwingend ist ein akademischer Abschluss die einzige Grundlage für ein glückliches Leben. Als Handwerker, als Müllfahrerin, als Krankenpfleger oder Polizistin kann man ein sehr erfülltes und gutes Leben führen. Wenn aber der Respekt für diese Lebenswege verloren geht, wenn sie das Gefühl bekommen, es geht in der Gesellschaft nicht mehr um sie, droht Trumpismus und das, was wir heute in vielen wohlhabenden Staaten beobachten müssen: Rechtspopulistische Parteien preisen ihren übel gelaunten, Ressentiment-geladenen Blick in die Vergangenheit an.
Haben Sie auch moderne amerikanische Romane gelesen, die nicht politisch sind?
Scholz: Klar. Philip Roth, Siri Hustvedt, John Irving, Paul Auster und Teju Cole habe ich gelesen und manche andere – auch wenn sie nicht völlig unpolitisch sind. Oft bieten diese unterhaltsamen Geschichtenerzählerinnen und -erzähler hervorragende Analysen der US-Gesellschaft. Da steckt viel Spannendes drin, auch für einen Politiker wie mich.
Haben sie auch Guilty Pleasures, also Bücher, die einfach nur lustig und unterhaltsam sind?
Scholz: Ich lese schon mal Krimis, meine Science-Fiction-Phase haben wir bereits gestreift – da waren gute dabei, aber auch sehr viele schlechte. (lacht) Und ab und an lese ich auch Comics.
In Frankreich hilft es der politischen Karriere, wenn man als Intellektueller gilt. Ist das in Deutschland anders?
Scholz: Na, das sollen andere bewerten. Helmut Schmidt hat stets den Anti-Intellektuellen gegeben, obwohl er neben Willy Brandt sicherlich zu den Intellektuellen in der deutschen Politik zählte. Schmidt las nicht nur sehr viel, sondern schrieb auch viele fachkundige Bücher. Aber das muss nicht so sein. Die Tradition bei uns in Deutschland unterscheidet sich von der französischen: Man kann politisch Karriere machen, ohne schon zu einer bestimmten Bildungselite oder sozialen Elite zu gehören. Ich finde, das ist gut so, und sollte auch so bleiben.
Reden Sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen, auch mit anderen Staats- und Regierungschefs über Bücher?
Scholz: Ja, gerade in jüngster Zeit habe ich mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron über Mohamed Mbougar Sarrs „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ gesprochen, ein ganz tolles Buch. Macron äußerte sich gleichermaßen begeistert.
Haben Sie auch einen Bezug zu französischer Literatur?
Scholz: Klar, Simone de Beauvoir, Jean- Paul Sartre und Albert Camus habe ich gern gelesen, Jean Genet hat mich beeindruckt.
Und Michel Houellebecq? Er gilt ja als ein prognostischer Autor, der schon so eine Ahnung hat, was mal passieren wird.
Scholz: Viel habe ich nicht von ihm gelesen, zuletzt sein Buch „Unterwerfung“, bevor ich es als beeindruckend gutes Solo-Theaterstück mit Edgar Selge in Hamburg gesehen habe.
Es geht in „Unterwerfung“ um eine fiktive Machtergreifung von Muslimen in Frankreich. Zum selben Themenkreis gab es einen Bestseller, Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“. Damals wurde ihre Amtsvorgängerin kritisiert, weil sie das Buch als nicht hilfreich bezeichnete, ohne es gelesen zu haben. Sollte sich der Kanzler zu solchen Büchern äußern?
Scholz: Wenn man gefragt wird und etwas zu sagen hat, warum nicht?
Hat das Wissen, das Sie durch das viele Lesen erworben haben, Ihre Schulzeit geprägt? Hat es Ihnen Autorität verliehen gegenüber Geschwistern und Mitschülerinnen und -schülern?
Scholz: Selbstkritisch würde ich heute einräumen: Ein Buch weniger und dafür etwas mehr Sport wäre auch nicht schlecht gewesen. Aber geprägt haben mich in meiner Schulzeit eher die Freundschaften und später die ersten Erfahrungen als Schulsprecher, daran denke ich gerne zurück. Sie haben mich sicherlich auch motiviert, mich politisch zu engagieren. Ich bin mit 17 Jahren noch als Schüler in die SPD eingetreten.
Konnten sie durch Ihre Lektüren auch beim anderen Geschlecht punkten?
Scholz: Nein, das funktioniert wohl nur im Film.
Da bekannt ist, dass Sie viel lesen, kriegen Sie dann auch von anderen Politikern oder ausländischen Gästen Bücher geschenkt?
Scholz: Ja, das kommt vor und es ist auch immer wieder etwas darunter, das mich inspiriert. Und manchmal verschenke ich auch Bücher.
Sie hatten auf Ihrer jüngsten Afrikareise das Buch von Howard French dabei, „Afrika und die Entstehung der modernen Welt“. Haben Sie aus dem Buch mehr über Afrika gelernt oder bei der eigentlichen Reise?
Scholz: In dem Fall war es eine interessante Kombination aus lesen und reisen. Afrika als Kontinent fasziniert mich. In historischen Büchern begegnet einem der einstige Herrscher von Mali, der damals der reichste Mann der Welt war und in Europa viele Fantasien auslöste. Die Entwicklung des Kontinents ist jäh durchbrochen worden durch den europäischen Kolonialismus. Howard French beschreibt sehr anschaulich, wie sehr die Sklaverei zur Herausbildung des modernen Kapitalismus in Europa beigetragen hat und wie unglaublich brutal die Ausbeutung gewesen ist, die Europa in Afrika betrieben hat. Allein, wie viele Menschen verschleppt wurden, um wenige Jahre auf den Westindischen Inseln ausgebeutet zu werden, bevor sie starben oder getötet wurden, ist dramatisch. Man hält es nicht für möglich, dass das die gleichen Gesellschaften waren, die zu der Zeit damit anfingen, sich mit der Aufklärung zu beschäftigen und demokratische Strukturen für sich zu entwickeln. Deshalb dürfen wir uns nichts vormachen: Wenn wir in Afrika, im Süden Amerikas, in Asien unterwegs sind, erinnern sich viele Länder noch sehr gut daran, dass das koloniale Zeitalter eben erst vor einigen Jahrzehnten zu Ende gegangen ist. Etwas mehr Demut steht uns also gut zu Gesicht.
Es gibt in diesem Kontext auch immer wieder Debatten über Kinderliteratur, etwa Tim und Struppi und andere Titel und die rassistische Darstellung von Afrikanern. Soll man solche Klassiker verändern oder sollte es verschiedene Ausgaben geben?
Scholz: Das kommt drauf an. Ich bin dafür, Probleme auf jeden Fall sichtbar zu machen in Vor- und Nachworten und mit Hinweisen im Text. Um eben auch deutlich zu machen, was so heute nicht mehr in Ordnung ist. Wenn es sich um pädagogisches Material für Kinder handelt, sollte es klar unseren heutigen Vorstellungen entsprechen. Da werden wir Wege suchen und auch ein bisschen herumtasten müssen.
Es gibt wenige Spuren über das, was Sie musikalisch wirklich interessiert. Sie haben immer mal wieder Jazz erwähnt, aber hören Sie bewusst Musik oder ist das eher etwas im Hintergrund?
Scholz: Ich höre Musik, aber ich war nie Fan im klassischen Sinne, hatte keinen Star oder eine Gruppe, über die ich dann alles wissen wollte. Meine Frau und ich gehen ab und zu in Konzerte – mal Jazz, mal Klassik. Als Schüler habe ich auch Instrumente gespielt: erst Flöte, später Oboe. Die Realität im Schulorchester war aber: Gefühlt alle 30 Takte mal ein paar Töne mit der Oboe zu spielen. Vielleicht hat das dazu beigetragen, dass ich mich nach der Schule musikalisch auf den Plattenspieler beschränkt habe.
Winston Churchill hat im Ruhestand den Literaturnobelpreis bekommen. Obama hat viel Geld als Schriftsteller verdient – haben Sie auch literarische Pläne für die Zeit danach?
Scholz: Ich schmiede keine Pläne für die Zeit danach, ich bin gerade ausreichend damit beschäftigt, Kanzler zu sein.
Schreiben Sie Tagebuch?
Scholz: Nein, noch nie.
Viele Kanzler der SPD hatten immer enge Beziehungen zu Schriftstellern: Helmut Schmidt zu Siegfried Lenz und Max Frisch. Brandt zu Günter Grass. Wie ist das bei ihnen?
Scholz: Die Sichtweise von Kulturschaffenden interessiert mich, da suche ich den Austausch. Wenn man sich direkt miteinander unterhalten kann, ist das viel besser als jedes Buch. Aber öffentlich spreche ich da nicht gerne drüber – denn es geht mir wirklich um das Gespräch und den offenen Austausch.
Viele Leute klagen, dass sie gar nicht zum Lesen kämen. Und ausgerechnet der Bundeskanzler, der den anstrengendsten Job im Land hat, liest so viel. Wie schaffen Sie das?
Scholz: Ach, ich lese längst auch nicht mehr so viel wie früher. Es gibt Tage, die sind so voll, da könnte ich mich gar nicht auf die Lektüre konzentrieren. Wenn ich müde bin, kann ich auch nicht lange lesen. Entspannt im Urlaub ist das anders, da lese ich wieder mehr. Oft auch viele Bücher gleichzeitig – und ich zwinge mich nicht, jedes Buch zu Ende zu lesen.
Kommt es vor, dass Sie in einem Roman versinken und dann Ihre Frau sagt, jetzt lass uns mal spazieren gehen?
Scholz: Das kommt schon mal vor.