"Wir brauchen eine faire Lastenverteilung"

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Im Wortlaut: Merkel "Wir brauchen eine faire Lastenverteilung"

Bundeskanzlerin Merkel freut sich über die Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen in Deutschland. In einem Interview machte sie aber auch deutlich: "Die Aufnahme der Flüchtlinge muss in der EU gemeinschaftlich gelöst werden. Europäische Solidarität bedeutet, dass alle mitziehen."

  • Interview mit Angela Merkel
  • Rheinische Post
Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Bundespressekonferenz

Merkel: "Viele werden bleiben. Darin sollten wir vor allem auch eine Chance sehen."

Foto: Imo/photothek.net

(Interview in Auszügen)

Rheinische Post: Frau Merkel, Deutschland zeigt sich beispiellos solidarisch in diesen Tagen. Sind Sie stolz auf das Land?

Angela Merkel: Ich habe am Montag nach dem wirklich atemberaubenden Wochenende gesagt, dass Deutschland ein Bild gezeigt hat, das uns ein Stück weit auch stolz machen kann auf unser Land. Ich freue mich sehr über die Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit, die so viele Bürger in dieser nicht einfachen Situation zeigen.

Rheinische Post: Ist das für Sie auch überraschend?

Es freut mich einfach sehr, und ich möchte den vielen Freiwilligen und Ehrenamtlichen genauso wie den Helfern der Polizei, der Hilfswerke und in allen Ämtern und Behörden von Herzen für ihren Einsatz danken und hoffe, dass ich niemanden vergessen habe.

Rheinische Post: Das Bild des toten syrischen Jungen an einem Strand in der Türkei hat viele Menschen aufgerüttelt. Was haben Sie persönlich empfunden?

Das Bild hat mich erschüttert und traurig gemacht - und auch wütend auf die Schlepper, die die verzweifelten Menschen in Schlauchbooten ohne Rettungswesten auf See lassen. Wir stehen in Europa vor einer unser größten Herausforderungen seit Jahrzehnten: Einerseits müssen wir alles tun, auf hoher See und in den Herkunftsländern der Flüchtlinge, dass nicht immer wieder Menschen auf einer lebensgefährlichen Reise nach Europa ihr Leben lassen. Andererseits müssen wir große Zahlen von Menschen bei uns aufnehmen und sie, sofern sie ein Bleiberecht haben, in unsere Länder integrieren. Wir sollten uns dabei an unsere Grundwerte erinnern, uns von Artikel 1 unseres Grundgesetzes leiten lassen: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Rheinische Post: Wie viele Flüchtlinge kann Deutschland pro Jahr vertragen, um sie gut aufzunehmen?

Da kann es keine einfache Zahl als Antwort geben. Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze; das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkriegs zu uns kommen. Doch es kommen auch Menschen aus sicheren Staaten, gerade vom Balkan, zu uns, mit dem - aus ihrer Sicht - verständlichen Wunsch, ein besseres Leben zu führen. Aber wenn sich keine Asylgründe ergeben, und das ist bei diesen Menschen in fast allen Fällen so, dann müssen sie rasch in ihre Länder zurückkehren. Deshalb werden wir die Asylverfahren beschleunigen. Gleichzeitig wollen wir aber für eine kleinere Zahl von Menschen vom Balkan die legale Einwanderung ermöglichen, etwa wenn sie einen Arbeitsplatz hier vorweisen können.

Rheinische Post: Selbst wenn nur die Hälfte der Asylbewerber in diesem Jahr bleibt, kommen durch den Familiennachzug schnell eine Million Menschen dauerhaft zu uns.

Ich beteilige mich an Schätzungen nicht. Wir können auch nicht wissen, wie viele wieder in ihre Länder zurückkehren werden, wenn sich die Lage dort eines Tages hoffentlich wieder bessert. Aber kein Zweifel: Viele werden bleiben. Darin sollten wir vor allem auch eine Chance sehen. Wenn wir Bildung und Integration ermöglichen, werden die Menschen, die zum Beispiel aus Syrien bei uns Zuflucht gefunden haben, unserem Land viel zurückgeben. Lassen Sie uns offen und mit Zuversicht an die Aufgabe herangehen.

Rheinische Post: Sie haben vergangenes Wochenende die Ausreise von Tausenden Flüchtlingen aus Ungarn über Österreich nach Deutschland ermöglicht. Bleibt es bei dieser Ausnahme?

Das war eine Entscheidung, die der österreichische Bundeskanzler und ich in einer extrem zugespitzten humanitären Lage gefällt haben. Es ging um Menschen in großer Not. Diese Entscheidung ändert nichts daran, dass die Regeln, die wir uns in Europa gegeben haben, gelten und alle Mitgliedsstaaten sich daran zu halten haben. Klar ist aber auch, und darauf arbeite ich mit anderen Regierungschefs und der Europäischen Kommission hin: Wir brauchen eine faire Lastenverteilung in Europa, wenn es darum geht, Flüchtlinge aufzunehmen.

Rheinische Post: Die CSU war über Ihren Alleingang verärgert. Gibt es keine einheitliche Flüchtlingspolitik in der Union?

Wir haben im Koalitionsausschuss ja gemeinsam gute Ergebnisse erzielt, die wir jetzt auch gemeinsam umsetzen wollen. Aber nicht allein der Beschluss, sondern die Umsetzung von Verbesserungen ist der zentrale Punkt. Im Übrigen leistet gerade Bayern herausragende praktische Arbeit bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen - und daran hat die CSU-Landesregierung großen Anteil.

Rheinische Post: Wird es bis zum Winter überall in Deutschland winterfeste Unterkünfte geben?

Wir tun, was wir können, um dieses Ziel zu erreichen. Der Bund stellt den Ländern und Kommunen seine Liegenschaften kostenlos zur Verfügung.

Rheinische Post: Wir brauchen vor allem Personal. Lehrer, Erzieher, Polizisten. Wo soll das herkommen?

Es wird gehen, wenn wir an einigen Stellen auch flexibler werden und von den üblichen strengen Anforderungen abrücken, um etwa genügend Deutschlehrer für Flüchtlinge zu bekommen. Wir müssen improvisieren, vielleicht pensionierte Lehrer und Erzieher reaktivieren oder Studierende einsetzen. Es bringt ja nichts, Menschen unversorgt zu lassen, weil Lehrer noch nicht die allerhöchste Qualifikation haben. Über all das werden wir mit den Ländern sprechen.

Rheinische Post: In der EU ist die Solidarität mit den Flüchtlingen unterschiedlich ausgeprägt. Wie wollen Sie die EU-Partner zu mehr Unterstützung bewegen?

Ich habe zusammen mit Frankreichs Präsident Hollande eine Initiative für eine verbindliche Verteilung bei der Aufnahme von Flüchtlingen in Europa ergriffen. Die EU-Kommission denkt in die gleiche Richtung. Die EU-Justiz und Innenminister beraten am Montag über dieses Thema. Wir brauchen auch mehr Hilfen für die Flüchtlingszentren an den Außengrenzen Europas. Die Aufnahme der Flüchtlinge muss in der EU gemeinschaftlich gelöst werden. Europäische Solidarität bedeutet, dass alle mitziehen.

Rheinische Post: Sonst drohen Sie damit, dass Schengen-Abkommen außer Kraft zu setzen?

Jeder weiß, dass Schengen nur funktionieren kann, wenn die Außengrenzen der EU gesichert sind. Doch ich gehe nun wirklich nicht mit Drohungen in die Gespräche, sondern mit guten europäischen Argumenten.

Rheinische Post: Sechs Milliarden Euro mehr für die Flüchtlingshilfen im Bundeshaushalt: Wird der Bund dafür an anderer Stelle Ausgaben streichen, etwa für das Betreuungsgeld?

Wir haben uns noch nicht abschließend darüber verständigt, was mit den Mitteln für das Betreuungsgeld geschehen soll. Für 2016 wird ja schon bewilligtes Betreuungsgeld noch ausbezahlt. Die wirtschaftliche Lage in Deutschland ist derzeit gut und die Bundesregierung hat mit ausgeglichenen Haushalten dazu entscheidend beigetragen. Die Kosten für die Aufnahme der Flüchtlinge können wir tragen.

Rheinische Post: Wird der Abbau der kalten Progression im Steuerrecht kommen wie beschlossen?

Ja.

Rheinische Post: Viele unserer Leser fragen, ob man nicht den Soli umwidmen könnte für die Flüchtlingskosten.

Steuern nur für einen einzigen ganz bestimmten Zweck zu erheben, ist nicht möglich. Die Leser können aber darauf vertrauen, dass unsere Haushaltslage es uns ermöglicht, notwendige Mittel für die Flüchtlingsunterbringung aufzubringen.

Rheinische Post: In Heidenau haben Sie die Schattenseiten der Flüchtlingsfrage erlebt, den Hass gegen Fremde. Ist der Frust größer geworden oder ist er durch die sozialen Netzwerke nur transparenter?

Das ist schwer zu sagen. Erinnern wir uns an den Anfang der 90er Jahre, als es schlimme Vorfälle gab. Fremdenhass ist also wirklich nichts Neues. Sicherlich kann eine teilweise enthemmte Kommunikation in den sozialen Netzwerken dazu beitragen. Auch auf Demonstrationen geben sich Rechtsextreme offen zu erkennen. Besonders traurig finde ich, wenn manche Bürger nichts dabei finden, nebenherzulaufen und solche Parolen dadurch noch zu verstärken. Deswegen sage ich allen, entschieden und überall von den Menschen mit Hass im Herzen Abstand zu halten. Die wollen nichts Gutes.

Rheinische Post: Muss die Politik bei Facebook einschreiten?

Wenn Menschen unter ihrem Namen in den sozialen Netzwerken Volksverhetzung betreiben, muss nicht nur der Staat agieren, sondern auch das Unternehmen Facebook sollte gegen diese Parolen vorgehen. Die Regeln dazu hat Facebook, sie müssen angewandt werden.

Die Fragen stellten Michael Bröcker und Eva Quadbeck für die