„Ich behalte die Nerven– auch wenn eine Lage schwierig ist“

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Kanzler im Interview mit dem Münchner Merkur „Ich behalte die Nerven– auch wenn eine Lage schwierig ist“

Die Zerstörung, die er in der Ukraine gesehen habe, „zerreißt einem das Herz“, erklärt der Bundeskanzler im Gespräch mit dem Münchner Merkur. Deshalb liefere man nun, „was gebraucht wird und hilft“. Im Interview berichtet Scholz auch über seinen Draht zum ukrainischen Präsidenten und zur Frage, ob er in diesen Zeiten noch ruhig schlafen könne.

9 Min. Lesedauer

Bundeskanzler Olaf Scholz bei einem Interview.

Der Bundeskanzler im Interview mit dem Münchner Merkur.

Foto: Bundesregierung/Kugler

Politiker, die in der Ukraine waren, sagen hinterher oft, dass der Besuch ihren Blick gewandelt habe. Sie kommen gerade aus Kiew. Wie ist das bei Ihnen nach Ihrer Reise an den Kriegsschauplatz?

Bundeskanzler Olaf Scholz: Die gewaltige Zerstörung in Irpin zu sehen, wenige Kilometer vor den Toren Kiews – das zerreißt einem das Herz. Die russischen Truppen sind dort mit äußerster militärischer Gewalt vorgegangen, haben Wohnblocks zerstört und Straßenzüge in Schutt und Asche gelegt. Ich habe Autos gesehen, in denen Familien erschossen wurden, die sich nur in Sicherheit bringen wollten. Und solche Brutalität findet überall in der Ukraine statt, ganz besonders im Osten des Landes. Das ist bedrückend.

Direkt nach Ihrer Ankunft gab es Luftalarm. Hatten auch Sie in diesem Moment Angst?

Scholz: Nein. Aber es hat mir gezeigt, wie sich der Alltag für die Menschen in Kiew anfühlt. Jeden Moment kann irgendwo in der Stadt eine Rakete in ein Wohnviertel einschlagen.

Präsident Selensky und Sie haben versucht, aufeinander zuzugehen. Ist da nun ein Draht oder nicht?

Das war nun das vierte persönliche Gespräch, das ich mit Präsident Selensky hatte – vor dem Krieg haben wir uns in Brüssel, in Kiew und in München getroffen. Seither haben wir uns viele Stunden am Telefon über die Lage ausgetauscht. Das waren immer sehr freundschaftliche, gute Gespräche – der Draht ist gut und belastbar.

Ihr Mantra: Die Ukraine darf nicht verlieren. Soll die Ukraine gewinnen, wie Ihre Außenministerin Annalena Baerbock sagt?

Scholz: Die Ukraine muss ihre Integrität und Souveränität verteidigen können. Genau darum geht es jetzt. Russland muss den Krieg sofort beenden und seine Truppen zurückziehen. Es ist klar, dass ein Diktatfrieden nach Putins Gnaden inakzeptabel ist. Deutschland unterstützt, wie viele andere Länder, die Ukraine nach Kräften. Finanziell, indem wir viel Geld geben. Humanitär, indem wir Verletzte behandeln und mehr als 800.000 Geflüchtete in Deutschland aufgenommen haben. Und militärisch, mit der Lieferung von Waffen und Munition. Und wir haben in Europa gemeinsam sechs sehr scharfe Sanktionspakete gegen Russland erlassen. Die halten wir durch, so lange es nötig ist.

Trotzdem konzentriert sich die Debatte auf Panzer. Die Industrie sagt, es stünden 30 Marder-Schützenpanzer bereit. Erlauben Sie jetzt den Export?

Scholz: In meinem Gespräch in Kiew hat der Präsident klar geschildert, was er jetzt braucht: Es geht um schwere Artillerie, um Flugabwehrsysteme und um Schutz vor Raketenschlägen. Und genau das liefert Deutschland. Aktuell läuft die Ausbildung ukrainischer Soldaten an dem modernsten und effektivsten System – der Panzerhaubitze 2000. Ein Dutzend dieser Geräte liefern wir gemeinsam mit den Niederlanden. Und die Ausbildung am Flugabwehr-Panzer Gepard läuft an, und dann können sie in der Ukraine eingesetzt werden. Gemeinsam mit den USA und Großbritannien liefern wir darüber hinaus moderne Mehrfach-Raketenwerfer, die dringend benötigt werden. Und das moderne Flugabwehrsystem Iris-T. Sie sehen – wir liefern das, was gebraucht wird und hilft. Und wir bewegen uns damit auf einer Linie mit unseren wichtigsten und engsten Verbündeten. 

Dennoch gibt es Vorwürfe. Die Ukrainer nennen es bitter „scholzen“, wenn einer was verspricht und nicht liefert. Trifft sie das?

Scholz: Vieles, was gerade hierzulande gesagt wird, ist einfach nicht wahr. Und manche unterschätzen die Komplexität der Angelegenheit. Wenn wir modernste Waffensysteme wie Panzerhaubitzen oder komplexe Flugabwehrsysteme liefern, müssen die Soldaten dafür auch gut ausgebildet werden, sonst sind diese Waffen unwirksam. Und für einige Systeme muss die passende Munition organisiert werden. Wer glaubt, Kriegswaffen wären verfügbar wie Autos beim Händler, der irrt. Mir ist bewusst, dass ich Kritik aushalten muss. Ich lasse mich aber nicht von einem besonnenen Kurs abbringen.

Können Sie uns Deutschen versprechen: Unter meiner Führung wird es keinen Krieg in Deutschland geben – ich halte uns da raus?

Scholz: Von Anfang an habe ich sehr klar gesagt: Wir werden die Ukraine unterstützen. Dafür habe ich mit einer jahrzehntelangen Regel gebrochen und lasse erstmals Waffen in großem Umfang in ein solches Kriegsgebiet liefern. Gleichzeitig, und auch das stand von Beginn an fest, tun wir mit unseren Verbündeten alles, um eine Eskalation hin zu einem Krieg zwischen Russland und der Nato zu vermeiden – denn das würde in eine Katastrophe führen. Deswegen haben wir im März alle den Wunsch der Ukraine abgelehnt, eine Flugverbotszone durchzusetzen. Das hätte eine unmittelbare Kriegsbeteiligung der Nato bedeutet.

Sie bieten der Ukraine eine Beitritts-Perspektive zur EU. Putin aber betrachtet EU wie Nato als feindselige Bündnisse. Glauben Sie, er wird eine ukrainische Annäherung an die EU jemals akzeptieren? 

Scholz: Die EU ist kein Militärbündnis...

...aber steht sich untereinander bei.

Scholz: Zur Verteidigung haben wir uns in der Nato zusammengefunden. Die Nato ist keine Bedrohung für Russland, und die Europäische Union schon gar nicht. Der russische Präsident muss akzeptieren, dass in seiner Nachbarschaft eine Gemeinschaft von Demokratien und Rechtsstaaten immer enger zusammenwächst. Putin scheint Angst davor zu haben, dass der Funke der Demokratie auf sein Land überspringen könnte. Deshalb betreibt er seit Jahren eine Politik, die eine Auflösung von Nato und EU zum Ziel hat. Er will ein gespaltenes Europa und zurück zu einer Politik der Einflusszonen. Das wird ihm nicht gelingen.

Putin dreht Deutschland bereits den Gashahn zu. Glauben Sie der Moskauer Begründung, dass wegen den Sanktionen Ersatzteile fehlen?

Scholz: Diese Begründung ist nicht plausibel.

Sie haben im Bundestag eine Zeitenwende ausgerufen. Gehört dazu nicht auch, die verbliebenen AKWs noch länger laufen zu lassen, um nicht knappes und kostbares Gas verstromen zu müssen?

Scholz: Die Fachleute sagen uns: Das wird nicht funktionieren. Der Atomausstieg ist lange beschlossen, die Brennelemente und nötigen Wartungsintervalle der Anlagen sind genau auf den Ausstieg abgestimmt worden. Die Brennstäbe reichen bis Jahresende. Und neue Brennstäbe zu besorgen, dauert nach diesen Aussagen zwölf bis 18 Monate. Mindestens. Deshalb hilft uns die Atomkraft jetzt nicht weiter, nicht in den beiden nächsten Jahren, auf die es ankommt. 

Sie haben also kein ideologisches Problem mit den AKWs, sondern ein praktisches?

Scholz: Ich befürworte den Ausstieg aus der Atomenergie aus vollem Herzen. Gleichwohl: Wenn es problemlos möglich wäre, die Laufzeit um ein oder zwei Jahre zu verlängern, würde sich jetzt wohl kaum jemand dagegen stellen. Da das aber offenbar nicht möglich ist, halte ich mich mit der Frage nicht lange auf. 

Die CSU sagt: wenigstens bis 2024. Wir hören heute kein kategorisches Nein?

Scholz: Die Argumente der Fachleute, die gegen eine Verlängerung sprechen, sind bisher nirgends widerlegt worden.

Diese Energie-Abhängigkeit hat ja Gründe – eine falsche Einschätzung Russlands. Ihr Parteifreund Sigmar Gabriel hat sich für das „größte Scheitern der deutschen Außenpolitik seit Beginn der Bundesrepublik“ entschuldigt. Hat er Recht? Und müsste nicht auch die frühere Kanzlerin Merkel Fehler eingestehen?

Scholz: Die frühere Kanzlerin hat sich dazu ja gerade zu Wort gemeldet. Ich habe in der Vergangenheit stets deutlich gemacht, dass Russland eine Europäische Union akzeptieren muss, die immer stärker zusammenrückt, und sich auch von der Nato nicht bedroht fühlen sollte. Mit Blick auf die Energie muss man feststellen, dass der Fehler nicht so sehr darin lag, Erdgas, Erdöl und Kohle aus Russland zu beziehen. Sondern darin, nicht für den Fall der Fälle vorzusorgen. Als Hamburger Bürgermeister habe ich massiv dafür geworben, Flüssiggas-Terminals an der norddeutschen Küste zu bauen. Leider ohne die ausreichende Unterstützung. Jetzt bauen wir diese Terminals mit größtem Einsatz, um alternative Lieferwege zu etablieren. 

Sie haben eine Konzertierte Aktion angekündigt, um die Bürger zu entlasten. Müsste dazu nicht auch gehören, die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel ganz zu streichen?

Scholz: Die Bundesregierung hat zwei große Entlastungspakete geschnürt – 30 Milliarden Euro schwer. In den nächsten Wochen erhält jeder Arbeitnehmer, jede Arbeitnehmerin einen Energiezuschlag von 300 Euro, für jedes Kind kommen noch einmal 100 Euro hinzu. Wir haben befristet den Tankrabatt und das Neun-Euro-Ticket eingeführt und den Heizkostenzuschlag erhöht. Davon profitieren kleinere, mittlere und ganz normale Einkommen. 

War’s das denn?

Scholz: Die hohen Preise werden uns länger begleiten. Deshalb habe ich die Konzertierte Aktion wieder ins Leben gerufen. Wir wollen uns abstimmen mit den Gewerkschaften und den Arbeitgebern. Am 4. Juli wird das erste Treffen sein, um miteinander zu besprechen, was zu tun ist. Ziel ist es, dass wir uns unterhaken und einen gemeinsamen Plan entwickeln, wie wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlasten können. Ich knüpfe damit bewusst an die Konzertierte Aktion an, die Ende der 60er unserem Land durch die Wirtschaftskrise geholfen hat.

Ist Ihr Plan: Eine Einmalzahlung der Tarifpartner, dafür nimmt der Staat sich bei der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel zurück?

Scholz: Ich bitte um Verständnis: Was zu tun ist, entwickeln wir im Gespräch mit den Sozialpartnern, nicht nebenbei mal in einem Zeitungs-Interview. Ich werde bei unserem Treffen keine Tarifverhandlungen führen – das ist Sache der Tarifpartner. Aber das will ich gerne sagen: Die jüngsten Vereinbarungen in der Chemie- und Stahlindustrie mit einer solchen Einmalzahlung finde ich gut.
 
Schauen wir auf den Gipfel in Elmau. Wird das das schwierigste, wichtigste Treffen der großen Nationen seit Jahrzehnten?

Scholz: In Elmau treffen wir uns in einer sehr schwierigen Zeit – in Europa tobt ein brutaler Krieg. Die G7 werden über den Krieg in der Ukraine sprechen und darüber, wie wir das Land weiter unterstützen können in seinem Abwehrkampf gegen Russland. Mit Blick auf den Klimaschutz erhoffe ich mir Fortschritte. Ich schlage einen Klima-Club vor all jener Staaten, die bis zur Mitte des Jahrhunderts klimaneutral werden wollen und dabei gemeinsame Verfahren entwickeln. Es geht um den Kampf gegen den Hunger in der Welt, der ja gerade mit Blick auf den Ukraine-Krieg noch härter zu werden droht. Die G7 sind der Zusammenschluss der wirtschaftlich stärksten Demokratien der Welt. Die Demokratien der Zukunft liegen in Asien und Afrika. Deshalb habe ich ganz bewusst fünf Partnerländer nach Elmau eingeladen: Indonesien, Indien, Südafrika, Senegal und Argentinien. Mir ist wichtig zu zeigen: Es geht hier nicht um den Westen und die Länder der Nordhalbkugel, sondern um die Gemeinsamkeit der Demokratien, unsere Werte. Das wird einer der wichtigsten Momente dieses G7-Treffens. 

Warum eigentlich Elmau, wieder ein Gipfel in Oberbayerns Bergen?

Scholz: Das Hochtal ist wunderschön und den Gipfel von 2015 haben alle in bester Erinnerung. 

Waren Sie selbst je dort?

Scholz: Privat war ich mit meiner Frau mal in Elmau. Vor zwölf Jahren – wir haben von dort aus die Passion in Oberammergau besucht.

Zum Abschluss eine persönliche Frage. Sie sind Kanzler in einer Kriegszeit, die ganze Welt schaut auf Sie und erwartet, dass unser Land diesmal auf der richtigen Seite der Geschichte steht. Kann man da als Regierungschef noch ruhig schlafen?

Scholz: (lange Pause) Ich bin von vielen Bürgerinnen und Bürgern gewählt worden, weil sie mir etwas zutrauen: Dass ich die Nerven behalte – auch wenn eine Lage schwierig ist. Und darauf können sie vertrauen.

Interview: Georg Anastasiadis, Christian Deutschländer