„In einer solchen Krise zeigt sich, wer einem besonders nahe ist“

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Interview von Kanzler Scholz mit „Dagens Nyheter“ „In einer solchen Krise zeigt sich, wer einem besonders nahe ist“

Schwedens Beitritt zur Nato wird den europäischen Beitrag im Bündnis noch erhöhen. Das sagte Bundeskanzler Scholz gegenüber der schwedischen Zeitung „Dagens Nyheter“. Im Interview spricht er auch über die Energieversorgung, Waffenlieferungen an die Ukraine – und er erklärt, warum ein souveränes und geeintes Europa gerade jetzt so wichtig ist.

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Bundeskanzler Olaf Scholz

Bundeskanzler Olaf Scholz

Foto: picture alliance/dpa/Kappeler

Hat Deutschland aufgrund seiner Größe, Wirtschaftskraft und Geschichte eine besondere Verantwortung für den Frieden in Europa?

Bundeskanzler Olaf Scholz: Kurze Antwort: Ja. Wenn Sie es ausführlicher wollen: Europa ist ein Friedensprojekt. Deutschland hat als größtes, bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich starkes Land im Herzen Europas eine besondere Verantwortung dazu beizutragen, dass Europa gut funktioniert. Gerade in diesen Zeiten brauchen wir ein souveränes, ein geeintes Europa, das sich von seinen gemeinsamen Werten leiten lässt. Deshalb stehen wir als Europäerinnen und Europäer so entschieden in diesem Krieg an der Seite der Ukraine. Ein starkes und souveränes Europa stärkt die transatlantische Allianz, die der Garant unserer Sicherheit ist. Der Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands wird den europäischen Beitrag im Bündnis noch erhöhen. 

Über den Import von Gas finanziert Deutschland den russischen Staatshaushalt mit – und indirekt den Krieg gegen die Ukraine. Wie begründen Sie das?

Scholz: Als ich das Amt des Bundeskanzlers im vergangenen Dezember übernommen habe, war eine meine ersten Amtshandlungen zu prüfen, wie wir uns für den Fall wappnen, dass wir nicht mehr auf Energielieferungen aus Russland bauen können oder wollen. In den vergangenen acht Monaten sind wir schon weit gekommen, aber noch nicht ganz am Ziel: Unsere Gasimporte aus Russland sind drastisch zurückgegangen. Vergangenes Jahr haben wir noch mehr als die Hälfte unseres Erdgases aus Russland bezogen. Inzwischen haben wir den Anteil auf gut ein Viertel verringert. Noch haben wir aber nicht ausreichend Ersatzkapazitäten, um ganz darauf verzichten zu können. Leider. Anders sieht es bei Kohle aus, da gilt seit einigen Tagen ein EU-weites Importverbot. Deutschland wird die Einfuhr von russischem Erdöl oder Ölprodukten bis Jahresende einstellen. Nun müssen wir mehr Gas einsparen – und gleichzeitig neue Lieferwege finden, Gas zu importieren. Gleichzeitig verstärken wir unsere ohnehin großen Bemühungen, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Parallel dazu haben wir in der Europäischen Union weitreichende Sanktionen gegen Russland beschlossen, die Moskau daran hindern, die Einnahmen aus den Gaslieferungen zu nutzen. Und diese Sanktionen zeigen ihre Wirkung. Die fehlenden Ersatzteile und Maschinen werden die russische Wirtschaft mehr und mehr schwächen.

Was würde es für die deutsche Industrie und die Arbeitsplätze bedeuten, wenn Russland die Gasversorgung stoppt? Befürchten Sie eine solche Entwicklung?

Scholz: Hätte Russland am 24. Februar seine Energielieferungen eingestellt, hätte das für Deutschland ganz massive Folgen gehabt. Wir haben die vergangenen Monate dazu genutzt, uns massiv auf verringerte Lieferungen oder gar deren Stopp vorzubereiten. Die Gasspeicher für den Winter sind deutlich stärker gefüllt als im vergangenen Jahr. Wir haben Kohlekraftwerke aus der Reserve zurückgeholt, um Gas zu sparen. An den Küsten schaffen wir mit Hochdruck die nötige Infrastruktur, damit wir Flüssiggas per Schiff importieren können. Die verbleibenden Monate bis zur kühleren Jahreszeit werden wir intensiv nutzen, um uns auf eine schwierige Lage vorzubereiten.

Was würde eine deutsche Rezession für die Stabilität Europas bedeuten?

Scholz: Russlands Angriff auf die Ukraine hat wirtschaftliche Folgen für ganz Europa. Wir sind eng verwoben in Europa, in unserem gemeinsamen Binnenmarkt. Wirtschaftliche Entwicklungen in einem Mitgliedstaat haben immer auch Auswirkungen auf andere Mitgliedstaaten. Auch deshalb ist es gut, dass wir eng zusammenarbeiten und unsere Wirtschaftskraft stärken. Mit dem gemeinsamen Gas-Einsparplan haben wir gezeigt, dass Europa geeint und geschlossen auf die Folgen der russischen Aggression reagiert. Das macht mich auch für die Zukunft zuversichtlich.

2011 beschloss die damalige Bundesregierung die Abschaltung der Atomkraft, zum Jahreswechsel sollen die letzten Reaktoren abgeschaltet werden. Sind Sie bereit, den Atomausstieg zu überdenken?

Scholz: Für uns ist Atomkraft keine nachhaltige Form der Energieerzeugung. Die Kosten sind hoch, die Frage der Endlagerung des Atommülls sowie der Sicherheit sind nach wie vor nicht geklärt. An dieser Auffassung hat sich grundsätzlich nichts geändert. Gerade läuft ein Stresstest, bei dem wir nochmal prüfen, ob der Betrieb der verbliebenen drei Atomkraftwerke, die eigentlich am 31. Dezember vom Netz gehen sollen, etwas gestreckt werden könnte, um durch den Winter zu kommen. Wichtig ist: Wir haben nicht nur eine Verantwortung für die Stromversorgung in Deutschland, sondern auch für die unserer europäischen Nachbarn. Wenn die Ergebnisse des Stresstests in den nächsten Wochen vorliegen, werden wir entscheiden, was zu tun ist. 

Deutschland wird vorgeworfen, die Ukraine im Kampf gegen Russland zu zögerlich mit Waffen zu unterstützen. Warum hat es so lange gedauert?

Scholz: Dieser Vorwurf ist falsch. Drei Tage nach Beginn des Krieges, am 27. Februar, habe ich Waffenlieferungen angekündigt und so mit einer jahrzehnte-alten Position der deutschen Politik gebrochen. In einem ersten Schritt haben wir geliefert, was schnell verfügbar und sofort nutzbar auf Lager war: Panzerfäuste, Stinger-Flugabwehrraketen, Munition. Die nächsten Schritte waren deutlich schwieriger, und inzwischen sprechen wir von sehr komplexen Systemen, an denen die ukrainischen Soldaten wochenlang ausgebildet werden müssen. Das sind schwere Waffensysteme wie die Panzerhaubitze 2000, der Flak-Panzer Gepard, die MARS-II-Mehrfachraketenwerfer oder das Luftabwehrsystem IRIS-T, das so neu ist, dass nicht mal die Bundeswehr es besitzt. Wichtig ist: Wir müssen uns gemeinsam in Europa überlegen, wie wir die Ukraine auch weiterhin mit den Systemen und der Menge an Munition ausstatten können, die sie braucht, um ihren Verteidigungskampf fortzuführen. 

Sie haben mehrfach mit Wladimir Putin telefoniert. Was haben Sie durch die Gespräche erreicht und werden Sie den Dialog fortsetzen?

Scholz: So schwierig dies auch ist, gerade in Krisenzeiten ist direkte Kommunikation besonders wichtig. Ich will sichergehen, dass unsere Botschaften den russischen Präsidenten direkt erreichen, dass sich Russland seiner Verantwortung direkt stellen muss. Meine klare Botschaft an ihn: Seine Strategie in Bezug auf die Ukraine wird nicht aufgehen. Natürlich führt das nicht dazu, dass Russland von jetzt auf gleich einen Kurswechsel vollzieht. Aber Putin muss wissen, was wir von ihm fordern. Deswegen halte ich solche Gespräche auch weiterhin für wichtig.

Sind Sie der Meinung, dass sich die Beziehungen zu Russland in absehbarer Zeit normalisieren können?

Scholz: Nein, das sehe ich in absehbare Zeit nicht. Russland führt Krieg gegen die Ukraine und sorgt für unglaubliches Leid und Zerstörung. Solange Russland diesen Krieg nicht beendet, seine Streitkräfte aus der Ukraine abzieht und einen vernünftigen Frieden schließt, sehe ich nicht, wie man überhaupt anfangen kann, an eine Normalisierung zu denken.

Mit der geplanten Milliarden-Investitionen soll die Bundeswehr zu einer der schlagkräftigsten Armeen in Europa werden. Was bedeutet das?

Scholz: Sie haben eben nach der Verantwortung aus wirtschaftlicher Stärke und Größe gefragt. Gerade zu einer Zeit, in der ein Land in Europa Krieg gegen seinen Nachbarn führt und den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Grenzen fundamental in Frage stellt, müssen wir unsere Sicherheit auch in militärischen Kategorien verstehen. Deutschland ist bereit, seine Verantwortung zu tragen und seinen Teil beizusteuern. Wir leisten unseren Beitrag in der Nato und in der Europäischen Union. 

Die Türkei hat Schwedens und Finnlands Nato-Antrag noch nicht genehmigt. Was tut Deutschland, um den Prozess zu erleichtern?

Scholz: Wir haben von Anfang an den Beitrittswunsch von Schweden und Finnland unterstützt. Deutschland hat den bei uns dafür nötigen Prozess innerhalb von nur zwei Wochen abgeschlossen. Das war Rekordtempo! Inzwischen haben 23 Alliierte die notwendigen Ratifikationsschritte vollzogen. Ich hoffe, dass die sieben verbleibenden Mitglieder den Beitritt bald ratifizieren, auch die Türkei. Beim Nato-Gipfel in Madrid haben alle 30 Alliierte die Beitrittsprotokolle gezeichnet.

Was hat der Krieg gegen die Ukraine für die deutsch-schwedischen Beziehungen bedeutet?

Scholz: Unsere beiden Länder waren sich immer schon sehr nah. Wir haben in vielen internationalen Fragen die gleichen Antworten. Unser Austausch auf allen politischen Feldern ist sehr eng. In einer solchen Krise, in der vieles überdacht wird, zeigt sich, wer einem besonders nahe ist. Schweden ist für mich einer dieser besonders engen Partner und Freunde. Das spüren wir seit langem in der Europäischen Union. Und durch den Beitritt Schwedens zur Nato erhalten wir weitere Gelegenheit, uns gemeinsam für die Sicherheit und den Frieden zu engagieren. Das ist für mich ganz wichtig.

In vier Wochen wird in Schweden ein neues Parlament gewählt. Sie kennen Premierministerin Magdalena Andersson gut? Wie würden Sie Ihre Beziehung beschreiben, und haben Sie einen Rat für sie?

Scholz: Magdalena und ich kennen uns gut, wir haben einen engen Austausch und ich vertraue auf ihre Einschätzungen. Sie ist eine herausragende Ministerpräsidentin. Wir sind uns ja auch über die parteipolitische Heimat gut bekannt. Ich glaube nicht, dass ich ihr einen Rat geben müsste, sie kennt Schweden am besten und wird sicherlich die richtigen Entscheidungen treffen.