„Die EU muss sich in puncto Energieversorgung noch stärker miteinander vernetzen“

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Bundeskanzler Olaf Scholz

Foto: photothek.net/Köhler & Imo

Frage: Herr Bundeskanzler, Welche konkreten Ergebnisse, die das Leben der Bürger betreffen, erwarten Sie von dem bilateralen Gipfel zwischen Spanien und Deutschland?

Bundeskanzler Olaf Scholz: Die Freundschaft zwischen Spanien und Deutschland ist tief, und auch die Beziehungen zu Pedro Sanchez und seiner Regierung sind eng und vertrauensvoll. Von solchen guten Beziehungen profitieren die Bürgerinnen und Bürger unserer Länder ganz grundsätzlich. Konkret werden wir in A Coruña über Fragen der Sicherheitspolitik, der engeren Zusammenarbeit in Energie- und Wirtschaftsfragen sowie bei Bildung und Forschung sprechen.

Nach den Wahlergebnissen in Schweden und Italien, welche Rolle sollte Ihrer Meinung nach die europäische Sozialdemokratie gegenüber der extremen Rechten spielen? Glauben Sie, wie von der Leyen gesagt hat, dass Brüssel die Instrumente hat, um ein autoritäres Abdriften in Italien zu verhindern?

Scholz: Der russische Überfall auf die Ukraine hat bewiesen, wie gut und wichtig es ist, dass die Europäische Union zusammensteht, abgestimmt und entschlossen handelt. Uns verbinden Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – daran kommt niemand in Europa vorbei. Mit Blick auf Italien ist klar, dass es sich um ein sehr proeuropäisches Volk handelt, Präsident Mattarella steht zu Europa. Und wir dürfen davon ausgehen, dass sich die künftige italienische Regierung an die Regeln und Werte hält, die uns in der EU miteinander verbinden.

Deutschland steht aufgrund des Mangels an russischem Gas ein schwieriger Winter bevor. Fürchten Sie wachsende Proteste und soziale Unruhen?

Scholz: Die Bundesregierung hat früh und sehr entschlossen gehandelt, damit Deutschland durch diesen Winter kommt. Mit neuen LNG-Terminals im Norden, mit zusätzlichen Lieferverträgen mit neuen Partnern, mit dem Füllen unserer Erdgasspeicher, mit der Re-Aktivierung der Kohlekraftwerke und damit, dass wir die beiden süddeutschen Atomkraftwerke bis ins Frühjahr weiterlaufen lassen. Zusätzlich haben wir umfangreiche Entlastungspakete geschnürt, die Bürgerinnen, Bürger und Unternehmen um fast 100 Milliarden Euro entlasten. Zusätzlich werden wir bis zu 200 Milliarden Euro aufwenden, damit die Energiekosten in Deutschland für alle zu stemmen sind. Niemand wird allein gelassen in dieser schwierigen Situation, das ist unser Anspruch.

Hat sich Deutschland selbstkritisch mit seiner Energieabhängigkeit von Russland auseinandergesetzt? Welche Verantwortung tragen die Vorgängerregierungen?

Scholz: Deutschlands Fehler war weniger, mit Russland Lieferverträge abzuschließen. Sondern, dass man nicht die nötige Infrastruktur geschaffen und LNG-Terminals errichtet hat, um im Falle eines Falles von einem auf den anderen Tag den Anbieter wechseln zu können. 

Sind Sie bereit, bei der Unterstützung der Ukraine durch die Entsendung von Kampfpanzern aus deutscher Produktion einen Schritt weiter zu gehen? Halten Sie die bisherigen Waffenlieferungen für ausreichend zügig?

Scholz: Die Bundesregierung hat ein Tabu gebrochen und erstmals in der Geschichte des Landes in großem Maße solche Waffen in ein Kriegsgebiet geschickt. Darunter sehr wirksame Waffen wie die Panzerhaubitze 2000, die Mehrfachraketenwerfer und den Flakpanzer „Gepard“. Es sind genau diese Waffen, die sich im Augenblick bei der Offensive der ukrainischen Armee als besonders wirksam erweisen. Wir sprechen uns eng mit unseren Partnern ab und beobachten die Situation genau. Unsere Unterstützung für die Ukraine werden wir so lange leisten wie nötig.

Besteht Ihrer Meinung nach, nach Putins jüngsten Schritten, die Gefahr einer nuklearen Konfrontation?

Scholz: Darüber zu spekulieren, bringt wenig. Wie US-Präsident Joe Biden sage ich in Richtung Russland: Tut es nicht!

Sie haben gesagt, dass die Reform des europäischen Energiemarktes dringend notwendig ist. Wie müssen Ihrer Meinung nach die Regeln geändert werden, um die Preise zu senken?

Scholz: Die hohen Energiepreise sind für alle EU-Mitglieder eine große Herausforderung. Es ist gut, dass die EU-Kommission Vorschläge vorgelegt hat, wie die EU darauf reagieren kann. Darüber sprechen wir in den nächsten Tagen in Europa ausgiebig. Das Ziel ist ein gemeinsames und koordiniertes Vorgehen innerhalb der EU. Wo übermäßige Gewinne anfallen, muss abgeschöpft werden, um mit dem Geld den Energiepreis zu senken.

Glauben Sie, dass es möglich sein wird, Frankreich von der Nützlichkeit der MidCat-Pipeline zu überzeugen? Warum ist sie für Deutschland wichtig?

Scholz: Die Europäische Union muss sich in puncto Energieversorgung noch stärker miteinander vernetzen; nicht nur in der akuten Situation, sondern auch mit Blick auf unsere Versorgung mit Erneuerbarer Energie. Insbesondere der Anschluss der Iberischen Halbinsel an das europäische Pipeline-Netz wäre ein ganz wichtiger Schritt für uns alle, deshalb werbe ich für den Bau von MidCat.

Sie haben eine Zeitenwende angekündigt, einen radikalen Wandel in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ist Ihre Regierung bereit, eine militärische Führungsrolle in Europa zu übernehmen, und sind die deutschen Bürger bereit, diese neue Rolle anzunehmen?

Scholz: Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Europa, die Europäische Union muss darauf reagieren und sich auf diese neue Zeit einstellen. Deutschland als großes, wirtschaftlich starkes Land im Herzen des Kontinents kommt dabei eine besondere Verantwortung zu. Diese Aufgabe nehmen wir sehr ernst – aber immer koordiniert mit unseren Verbündeten in der EU und in der Nato. 

Deutschland hat ein Problem mit dem Mangel an Arbeitskräften. Welche gemeinsame Migrationspolitik wünschen Sie sich für Europa?

Scholz: Europa ist für Millionen Menschen auf der ganzen Welt ein Sehnsuchtsort. Darauf können wir stolz sein, denn es zeigt, dass wir vieles richtig machen und europäische Werte attraktiv sind. Klar ist: Wir brauchen Zuwanderung. Das sehen wir gerade an allen Ecken und Enden, wo qualifizierte Arbeitskräfte fehlen: etwa an Flughäfen, in Krankenhäusern und in Handwerksbetrieben. Wie kann es also funktionieren? Es braucht erstens mehr verbindliche Partnerschaften mit den Herkunfts- und Transitstaaten – und zwar auf Augenhöhe. Wenn wir Arbeitskräften mehr legale Wege nach Europa bieten, muss im Gegenzug die Bereitschaft in den Herkunftsstaaten steigen, eigenen Staatsangehörigen ohne Aufenthaltsrecht die Rückkehr zu ermöglichen. Zweitens gehört zu einer funktionierenden Migrationspolitik ein Außengrenzschutz, der wirksam ist und unseren rechtstaatlichen Standards gerecht wird. Der Schengen-Raum, das grenzenlose Reisen, Leben und Arbeiten, steht und fällt mit diesem Schutz. Und drittens braucht Europa ein Asylsystem, das solidarisch und krisenfest ist. Es ist unsere Pflicht, Menschen, die schutzbedürftig sind, ein sicheres Zuhause zu bieten. Unter der französischen Ratspräsidentschaft haben wir uns in den letzten Monaten auf erste Reformschritte für das Gemeinsame Europäische Asylsystem geeinigt. Das sind erste Schritte heraus aus der langjährigen Blockade. 

In diesem Herbst wird die Kommission über eine Änderung der fiskalischen Regeln der Eurozone diskutieren: Sind die 3% und 60% unantastbar? Wird Deutschland nur einer Änderung der 1/20-Regel zustimmen?

Scholz: Mein Eindruck ist, dass die bisherigen Regeln sich bewährt haben, eben weil sie ein hohes Maß an Flexibilität in Krisenzeiten gezeigt haben. Im Sommer haben wir als Bundesregierung unsere Vorstellungen zur Weiterentwicklung der europäischen Schuldenregeln vorgelegt. 

Der Einmarsch Russlands in der Ukraine und die Abhängigkeit von russischem Gas haben dazu geführt, dass Deutschland und Europa sich nach alternativen und „schmutzigeren“ Versorgungsquellen wie Kohle umsehen mussten. Geht Deutschland davon aus, dass es seine Umweltziele nicht erreichen kann?

Scholz: Unser Ziel bleibt es, unsere ambitionierten Ziele zu erreichen. Parallel zu unseren Anstrengungen für den Augenblick, beschleunigen wir den weiteren Ausbau der Erneuerbaren Energien, insbesondere bei Windkraft auf See und an Land sowie Solarenergie. Die Emissionen, die wir aufgrund des russischen Überfalls auf die Ukraine in diesem und im nächsten Winter zusätzlich ausstoßen müssen, spornen uns an. Der Kampf gegen den Klimawandel genießt weiterhin hohe Priorität. Jetzt erst recht.