Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Verleihung der Ohel-Jakob-Medaille in Gold am 9. November 2016

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Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Charlotte Knobloch,
sehr geehrter Herr Vizepräsident Chmiel,
sehr geehrter Herr Oberrabbiner Lau,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Horst Seehofer,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Reiter,
liebe Mitglieder der jüdischen Gemeinde,
sehr geehrter Herr Botschafter,
meine Damen und Herren
und ganz besonders natürlich Sie, sehr geehrter Herr Rabbiner Schneier,

ich bedanke mich ganz herzlich dafür, dass Sie den weiten Weg hierher auf sich genommen haben. Ich freue mich über unser heutiges Wiedersehen. Ihre freundlichen und auch aufmunternden Worte haben mich tief im Herzen berührt. Herzlichen Dank.

Es ist ohnehin eine außerordentliche Ehre, dass mir die höchste Auszeichnung der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern zuteil wird – noch dazu an einem so denkwürdigen Datum wie dem heutigen. Es war vor 78 Jahren, am 9. November 1938 – es ist heute Abend noch einmal sehr eindrücklich geschildert worden –, als sich die nationalsozialistische Ideologie deutlich wie nie vor aller Augen offenbarte. Es hatte schon in den Jahren davor massive Diskriminierung und Übergriffe gegeben, doch in der Nacht vom 9. auf den 10. November zeigte sich die Gewalt nicht nur spontan, sondern generalstabsmäßig geplant in aller Öffentlichkeit.

Es war besonders bedrückend und beschämend, dass die nicht-jüdische Bevölkerung all die Grausamkeiten gegen ihre jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger weitgehend gleichmütig, widerspruchslos hinnahm – ja, dass sie sie oftmals sogar begrüßte und unterstützte. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden verwüstet. Tausende jüdische Bürger wurden gedemütigt und misshandelt. Nicht wenige wurden getötet. Auch die ursprüngliche Ohel-Jakob-Synagoge in München wurde damals zerstört.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 waren Sie, liebe Frau Knobloch – Sie haben es selbst noch einmal gesagt – sechs Jahre alt. Für Sie gehören die Ereignisse dieser Nacht zu Ihren traumatischen Kindheitserinnerungen. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war der Vorbote für den größten Völkermord in der Geschichte der Menschheit, für das organisierte Menschheitsverbrechen der Shoa. In der Folge sollte eine Vernichtungsmaschinerie einsetzen mit dem furchtbaren Ziel, jüdisches Leben in Deutschland und Europa systematisch auszulöschen. Heute Nachmittag wurden die Namen von Kindern und Jugendlichen aus München verlesen, die der Judenverfolgung zum Opfer fielen. Wir verneigen uns in tiefer Trauer vor ihnen und den Millionen anderen Opfern.

Doch neben der Trauer über das, was war, steht heute, am 9. November 2016, auch die Dankbarkeit für das, was ist. Dass Sie, liebe Frau Knobloch, und ich, dass wir alle hier 78 Jahre danach zusammenkommen können, dass Sie mir die Ohel-Jakob-Medaille verleihen, erfüllt mich mit großer Freude. In der Begründung dieser Auszeichnung heißt es unter anderem: „Vertreibung und Heimkehr, Auslöschung und Neuanfang – das sind die zwei Seiten der Ohel-Jakob-Medaille.“ In der Tat, diese beiden Seiten sind untrennbar miteinander verbunden. So verbinden sich heute Abend das Erinnern und Gedenken mit Hoffnung und Zuversicht. Deshalb dürfen wir feiern, dass vor zehn Jahren die neue Ohel-Jakob-Synagoge eingeweiht werden konnte. Wir dürfen feiern, dass jüdisches Leben damit auch weithin sichtbar in die Mitte dieser Stadt zurückgekehrt ist. Ich konnte es erleben, als ich heute hierherfuhr, dass es die Mitte der Stadt ist. Ich konnte auch sehen, was für ein wunderbarer Ort das im Abendlicht ist. Das ist sehr berührend.

Liebe Frau Knobloch, bei der Einweihung der neuen Ohel-Jakob-Synagoge im Jahr 2006 haben Sie gesagt: „Wir haben gebaut, wir bleiben, denn wir gehören hierher.“ Dieses Bekenntnis wird in vielerlei Hinsicht untermauert – bildlich und durchaus auch wörtlich. Das Gemeindeleben ist bunt und lebendig. Kürzlich hat ein jüdisches Gymnasium in München eröffnet. Grundschule, Kindergarten, Kinderkrippe gibt es schon. Diese Entwicklung steht exemplarisch für die aufblühende jüdische Vielfalt in Deutschland.

Wir verdanken dies denjenigen, die sich trotz des Leids, das sie erfahren hatten, den Glauben an das Gute bewahren konnten – die ihre Hoffnung lebten, die Vertrauen in unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fassten. Wir verdanken dies denjenigen, die nach dem Zivilisationsbruch der Shoa in unser Land zurückkehrten, um hier zu leben und am Neuanfang mitzuwirken – die ihre Hand zur Versöhnung ausstreckten und damit Brücken über Gräben bauten, die schier unüberwindbar schienen. Wir verdanken dies Menschen wie Ihrem Vater, liebe Frau Knobloch. Fritz Neuland hatte mit Julius Spanier kurz nach Kriegsende die hiesige Israelitische Kultusgemeinde neu gegründet. Viele sind den beiden gefolgt – auch Sie selbst – und haben mit unermüdlichem Einsatz dafür Sorge getragen, dass jüdisches Leben in Deutschland mehr und mehr wieder eine Heimat finden konnte.

Insbesondere mit der Integration von Zuwanderern aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion – ich konnte mich davon auch selbst überzeugen – haben die jüdischen Gemeinden in Deutschland eine enorme Leistung vollbracht. Mit ihnen sind die Gemeinden um ein Vielfaches gewachsen. Schon allein daran lässt sich die Größe der Aufgabe ermessen. Was die jüdischen Gemeinden an religiöser Einbindung und gesellschaftlicher Teilhabe erreicht haben, ist wirklich großartig.

Natürlich sind für Fortschritte auch immer wieder steinige Wege zu gehen. Oder um es mit den Worten des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, auszudrücken: „Manchmal muss um den Konsens zwischen Alt und Neu gerungen werden, aber es lohnt sich.“ Diese Botschaft können wir auf Integrationsprozesse insgesamt übertragen. Dort, wo Alt und Neu aufeinandertreffen, braucht es Verständigung über Werte, über Regeln, über Gewohnheiten, um auf einem gemeinsamen Fundament aufbauen zu können.

Dies müssen wir auch bei der Integration der vielen Menschen beherzigen, die bei uns gerade auch im letzten Jahr Zuflucht vor Krieg, Terror und Verfolgung gesucht und gefunden haben. Dabei sind Spracherwerb, Ausbildung und Arbeit zentrale Schlüssel, um sich neue Perspektiven zu erschließen. Aber es braucht noch mehr, um in unserem Land wirklich Fuß zu fassen – um zu verstehen, was unsere Gesellschaft und unser Miteinander ausmachen.

Dazu gehört auch, die deutsche Geschichte zumindest in Grundzügen kennenzulernen – auch und gerade einschließlich des dunklen Kapitels der Shoa. Es ist deshalb außerordentlich wichtig, wenn Gedenkstätten, Museen und andere Kultureinrichtungen dieses Wissen vermitteln und damit auch für Gefahren sensibilisieren – Gefahren durch Antisemitismus und Hass; Hass nicht zuletzt auch auf Israel, wie er in Herkunftsländern vieler Flüchtlinge im Nahen und Mittleren Osten zum Alltag gehört. Der Zentralrat der Juden wie auch die jüdischen Gemeinden in Deutschland werden mich im Übrigen auch immer an ihrer Seite haben, wenn sie die Gefahr antisemitischer Prägungen von Flüchtlingen aus einer völlig anderen religiösen und kulturellen Region benennen.

Wir sind es den Opfern der Shoa wie auch uns selbst heute schuldig, das Wissen um das Geschehene von Generation zu Generation weiterzugeben und uns entschieden gegen die heutigen Bedrohungen durch Hass und Antisemitismus zu wenden. Umso mehr sollte uns zu denken geben, dass Studien unter jüngeren Deutschen ein zunehmendes Desinteresse daran belegen, über die Verbrechen Deutschlands im Nationalsozialismus historisches Wissen zu erwerben. Das mag auch mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zusammenhängen. Mehr und mehr Zeitzeugen verstummen. Umso wichtiger ist es, die Erinnerung wachzuhalten. In Zukunft müssen wir noch intensiver über neue Formen des Erinnerns nachdenken, denn nur im Bewusstsein der immerwährenden Verantwortung Deutschlands für den Zivilisationsbruch der Shoa können wir die Zukunft gestalten.

Einer, der sein Überleben und Weiterleben dem Kampf gegen das Vergessen und für die Versöhnung gewidmet hat, fehlt heute in unserer Mitte: Max Mannheimer. Eine seiner zentralen Botschaften an die jüngeren Generationen war diese: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“ Voraussetzung dafür ist, die Werte unseres Grundgesetzes, die Werte der Freiheit, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit zu leben, zu schützen und zu verteidigen – gegen jegliche Anfechtung.

Mit Sorge müssen wir jedoch feststellen, wie leicht antisemitisches, rassistisches und menschenfeindliches Gedankengut auf Resonanz stößt – und zwar bis in die Mitte unserer Gesellschaft hinein. Wir müssen erleben, wie hemmungslos Hass und Hetze gezeigt werden – nicht nur in der Anonymität des Internet, sondern auch auf offener Straße, bei Demonstrationen oder vor Flüchtlingsunterkünften. Das dürfen wir nicht ignorieren. Das dürfen wir in keiner Weise bagatellisieren. Das muss entschiedenen Widerspruch finden – in Wort und in Tat. Wir müssen klar machen: Wer Grundwerte infrage stellt, der stellt den Boden für ein Leben in einer freiheitlichen Gesellschaft infrage. Wer gegen Recht und Gesetz verstößt, der muss die ganze Konsequenz des Rechtsstaats erfahren.

In unseren Tagen ist gerade auch der islamistische Terrorismus eine, wie wir alle wissen, ernsthafte Gefahr. Wir haben mit ansehen müssen, was in Kopenhagen, Paris oder Brüssel geschah. Wir haben bei uns im Land im Sommer die Attentate von Ansbach und Würzburg erlebt. Zur traurigen Erkenntnis gehört leider, dass gerade auch jüdische Einrichtungen immer wieder Zielscheibe von Anschlägen sind. Getroffen jedoch werden wir alle – unser gemeinsames Leben in Freiheit, unser friedliches Miteinander, unser respektvoller Umgang mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Überzeugungen.

Wir als Bundesregierung tun alles, was in unserer Macht steht, um Schutz und Sicherheit in Deutschland zu gewährleisten. Wir tun dies in der Überzeugung, dass sich Demokratie und Freiheit als stärker erweisen als der Hass feiger Attentäter und ihrer Hintermänner. Diese Überzeugung ist unsere Antwort nicht nur auf den islamistischen Terror, sondern auf jegliche Form von Gewalt, auf jegliche Form von Diskriminierung und Ausgrenzung.

Durch Begegnung, durch Austausch von Wissen und Erfahrung lassen sich Vorurteile überwinden und Toleranz fördern. Die Menschlichkeit einer Gesellschaft bemisst sich immer auch am Willen zum Dialog. In den vergangenen zehn Jahren haben sich gerade auch diese Synagoge und das Gemeindezentrum zu einem Ort des Dialogs und der Begegnung entwickelt. Die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern steht für Weltoffenheit und ein gutes Zusammenleben im Freistaat Bayern und in unserem ganzen Land, wenn ich den Freistaat als Teil der Bundesrepublik Deutschland betrachte. Sie baut Brücken, wo andere versuchen, Gräben auszuheben. Ich sehe dieses großartige Engagement als Zeichen des Vertrauens in unser Land – ebenso wie die Ohel-Jakob-Medaille, die Sie mir verliehen haben. Dies ist alles andere als selbstverständlich. Umso dankbarer bin ich dafür.

Persönlich und als Bundeskanzlerin werde ich mich weiterhin mit ganzer Kraft dafür einsetzen, Ihrem Vertrauen – ganz besonders auch Ihrem Vertrauen, liebe Frau Charlotte Knobloch – gerecht zu werden. Ich weiß, dass es ein Schatz ist, Sie kennengelernt und mit Ihnen viele Gespräche geführt zu haben.

Herzlichen Dank.