Rede von Bundeskanzlerin Merkel zur Eröffnung des „Forum de Paris sur la Paix“ am 11. November 2018

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Sehr geehrte Damen und Herren Präsidenten,
lieber Emmanuel Macron,
sehr geehrte Damen und Herren Ministerpräsidenten,
Exzellenzen,
sehr geehrte Damen und Herren,


wir haben heute Morgen – und ich glaube, ich sage das im Namen aller – in einer bewegenden Zeremonie der Tatsache gedacht, dass am 11. November gegen 11 Uhr morgens vor genau 100 Jahren die Nachricht von einem Waffenstillstand an der Westfront die Runde machte. Meldereiter mit Trompeten haben damals den Waffenstillstand verkündet, Soldaten feierten. Wir haben vorhin noch einmal einen Rückblick auf die Gefühle erhalten.


Für diesen Krieg musste damals ein neuer Begriff geschaffen werden. Das war der Begriff des Weltkriegs. In Frankreich und Großbritannien sagt man: der Große Krieg. Er sprengte alles, was sich die Menschheit bis dahin angetan hatte. Euphorie, Hurrarufe, die Propaganda vom schnellen Sieg standen am Anfang des Krieges. An seinem Ende standen 17 Millionen Tote. Wie konnte so etwas in fortgeschrittenen Staaten – in Staaten, die für sich von Aufklärung sprachen – eigentlich geschehen? Der technische Fortschritt wurde damals missbraucht. Massenvernichtungswaffen, Gas, Bomben, U-Boote wurden ohne jede Rücksicht auf Verluste eingesetzt. Zivilisatorische Grundsätze wurden komplett ignoriert. „Deutschland wurde geschlagen, wir alle haben verloren.“ – So drückte es General de Gaulle aus. Dieser Krieg mit seinem sinnlosen Blutvergießen zeigt, wohin nationale Selbstherrlichkeit und militärische Überheblichkeit führen können. Und er macht bewusst, welche verheerenden Folgen Sprachlosigkeit und Kompromisslosigkeit in Politik und Diplomatie haben können.


Wir schauen heute, 100 Jahre später, zurück auf diesen Krieg. Wir gedenken der Opfer, der Frauen, Männer und Kinder. Wir gedenken der Soldaten, die an der Front ihr Leben ließen. Aber – und deshalb, lieber Emmanuel, bin ich dir so dankbar – dabei können wir nicht stehenbleiben, sondern wir müssen uns fragen: Was bedeutet das für uns heute?


Wir alle hier wurden gebeten, ein Buch zur Bibliothek des Friedens beizusteuern. Ich habe Käthe Kollwitz’ Buch „Briefe an den Sohn“ ausgewählt. Eine große Künstlerin aus Deutschland schreibt über ihre beiden Söhne – über den einen Sohn, der in Belgien ganz früh in diesem Krieg gefallen ist, und ihr flehentliches Hoffen, dass der andere Sohn, ein Sanitäter, überleben möge. „Das Herz ist einem so entsetzlich schwer“ – schreibt sie. „Warum, warum bloß das Sterben dieser allerschönsten Jugend und das Lebenbleiben der Alten?“


Dass ich heute hier als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland stehe, ist eine Ehre für mich. Ich danke Emmanuel Macron auch für das, was wir gestern erleben konnten. Bis vor Kurzem stand in Compiègne, wo der Waffenstillstand vor fast 100 Jahren geschlossen wurde, „die Arroganz der Deutschen“ geschrieben; und an sie wurde erinnert. Diese Zeilen wurden jetzt durch „die Freundschaft“, durch „die Partnerschaft“ von uns ersetzt. Das ist ein großartiges Zeichen. Aber das ist natürlich auch Verpflichtung. Denn das ist heute alles andere als selbstverständlich, insbesondere nach dem Leid, das die Deutschen in zwei Weltkriegen über ihre Nachbarn, über Europa und die Welt gebracht haben. Es ist eine großherzige Einladung unter Freunden.


Der Friede, den wir heute haben, den wir zum Teil schon als allzu selbstverständlich wahrnehmen, ist alles andere als selbstverständlich, sondern dafür müssen wir arbeiten. Deshalb möchte ich auch von meinen Sorgen sprechen, die sich für mich in unser heutiges Gedenken mischen – die Sorge etwa, dass sich wieder nationales Scheuklappendenken ausbreitet, dass wieder so gehandelt werden könnte, als könne man unsere wechselseitigen Abhängigkeiten, Beziehungen und Verflechtungen einfach ignorieren. Wir sehen doch, dass internationale Zusammenarbeit, friedlicher Interessenausgleich, ja, selbst das europäische Friedensprojekt wieder infrage gestellt werden. Wir sehen die Bereitschaft, Eigeninteressen schlimmstenfalls auch mit Gewalt durchzusetzen.


Letztes Jahr wurden, Herr Generalsekretär der Vereinten Nationen, 222 gewaltsam ausgetragene Konflikte auf der Welt gezählt. – 222! Laut UNHCR waren weltweit 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht – mehr als zum Beispiel Frankreich Einwohner hat. Noch bedrückender werden diese Zahlen, wenn wir uns ansehen, wen die Konflikte am härtesten treffen. Mehr als eine Milliarde Kinder sind von aktuellen Konflikten betroffen. Kinder machen 52 Prozent der Flüchtlinge aus. Schätzungen zufolge werden bis zu 250.000 Mädchen und Jungen als Kindersoldaten missbraucht.


Angesichts dessen, was wir erlebt haben, und angesichts der Tatsache, dass wir eigentlich denken, dass wir daraus Lehren gezogen haben, muss uns das fassungslos machen – genauso wie die Bilder aus Syrien und aus dem Jemen. Aber sie dürfen uns nicht sprachlos machen; und vor allem dürfen sie uns nicht tatenlos machen. Auch das ist doch eine Lehre aus der Geschichte. Wir dürfen uns nicht einfach mit den bewaffneten Konflikten abfinden – egal, wie nah oder fern von Europa sie ausgetragen werden. Kein Staat, keine Religion, keine Bevölkerungsgruppe und kein einzelner Mensch darf von uns abgeschrieben werden.


Das heißt, wir müssen für eine politische Lösung in Syrien arbeiten. Verschiedene Gruppen tun dies, aber sie haben den Weg zueinander noch nicht gefunden. Wir, Emmanuel Macron und ich, haben uns neulich mit dem russischen Präsidenten und dem türkischen Präsidenten in Istanbul getroffen, um die verschiedenen Aktivitäten zusammenzubringen. Ich möchte Herrn de Mistura und den Vereinten Nationen für alles danken, was unternommen wird. Aber es bleibt noch ein steiniger Weg. Aber wir dürfen das Ziel nicht aufgeben.


Während wir hier miteinander arbeiten und gedenken, müssen wir wissen, dass sich im Jemen die wahrscheinlich größte humanitäre Katastrophe abspielt, die im Augenblick auf der Welt stattfindet. Und nur die Tatsache, dass wir nur wenige Bilder sehen, hält uns davon ab, erschrocken zu sein. Aber die Abwesenheit von Bildern darf nicht zu Tatenlosigkeit führen. Deshalb hat hier am Rande – und ich bin dafür sehr dankbar – in vielen Gesprächen das Thema Jemen eine Rolle gespielt. Ich glaube, die Welt muss handeln, um hier zu einem Waffenstillstand und humanitärer Versorgung zu kommen.


Liebe Freunde, mangelnde Bereitschaft und mangelnde Fähigkeit zum Dialog – genau daraus haben sich das Misstrauen und die Kriegslogik genährt, die 1914 eine ungeheure Gewaltmaschinerie in Gang gesetzt haben. Die Sprachlosigkeit – es gibt ein Buch über den Ersten Weltkrieg, das von „Schlafwandlern“ spricht –, war im Wesentlichen der Grund des kollektiven Versagens, das in die Krise und Katastrophe führte.


Genau diesen Schluss hat damals der amerikanische Präsident Wilson gezogen. Mit seinen berühmten vierzehn Punkten sprach er sich unter anderem für einen allgemeinen Verbund von Nationen aus. Ein institutionalisierter Dialog sollte heilsamen Druck erzeugen, um künftigen Konflikten vorzubeugen. Wir alle wissen: Der Völkerbund wurde gegründet – und er scheiterte. Die Welt erlebte, wie Deutschland den Zweiten Weltkrieg entfesselte, den Zivilisationsbruch der Shoa verübte und den Glauben an die Menschlichkeit erschütterte.


Danach war nichts mehr wie vorher. Es konnte und durfte ja auch nicht so sein. Die Antwort war die Gründung der Vereinten Nationen. Die Staatengemeinschaft schuf eine Rechtsordnung, einen Rahmen für internationale Zusammenarbeit. Beides wurde untermauert von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die die UN-Generalversammlung vor 70 Jahren verkündete. Ich frage mich oft: Stellen Sie sich einmal vor, wir müssten als heutige Staatengemeinschaft wieder so eine Erklärung für die Menschenrechte verabschieden; würden wir das schaffen? – Ich fürchte, nein.


Deshalb sollten wir das, was damals nach dem unmittelbaren Erleben des Schreckens geschaffen wurde, hüten, schützen und fortentwickeln. Ich weiß auch, dass es schwer ist, rechtlich bindende Beschlüsse zu fassen. Aber es ist immerhin gelungen, das umfassende Gewaltverbot der UN-Charta, das Gewaltmonopol des UN-Sicherheitsrates zu schaffen, auch wenn dieser Sicherheitsrat leider häufig blockiert ist. Ich lese und spüre ja, dass viele sagen: Was leisten die Vereinten Nationen? Natürlich bleiben sie im Alltag – sie müssen es – hinter den Idealen zurück. Aber ist das ein Grund dafür, zu sagen, ohne die Vereinten Nationen würden wir besser leben? – Ich sage ein völlig klares Nein. Zerstören kann man Institutionen schnell, Wiederaufbauen ist unglaublich schwierig. Wir alle wissen doch: Was uns heute herausfordert, was uns gefährdet, das können wir in den allermeisten Fällen eben nicht national, sondern nur noch gemeinsam lösen. Deshalb müssen wir uns zu dieser Gemeinsamkeit bekennen.


Daher verdienen Sie, sehr geehrter Herr Generalsekretär, lieber Antonio Guterres, jede Unterstützung – jede Unterstützung für das, das Sie alltäglich tun, genauso wie für die Reform der Vereinten Nationen. Wir müssen den Präventionsgedanken nach vorne stellen. Wir müssen verhindern, dass Konflikte entstehen. Dafür ist die Agenda 2030 mit den 17 globalen Nachhaltigkeitszielen ein guter Wegweiser. Wir wissen, dass wir Armut und Hunger bekämpfen müssen, wenn wir Frieden wollen. Wir wissen, dass wir Zugang zu Bildung schaffen müssen, dass wir die Natur schützen müssen und dass wir wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit stärken müssen. Wir wissen in Deutschland um diese Herausforderungen und freuen uns, zwei Jahre lang als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats an dieser Agenda mitarbeiten zu können.


Der Erste Weltkrieg hat uns gezeigt, in welches Verderben Isolationismus führen kann. Und wenn Abschottung vor 100 Jahren schon keine Lösung war, wie könnte sie es heute sein – in einer vielfach vernetzten Welt mit fünfmal so vielen Menschen auf der Welt wie damals? Deshalb haben wir für unsere G20-Präsidentschaft im vergangenen Jahr das Motto gewählt „Eine vernetzte Welt gestalten“. Wir werden auch eng mit der französischen G7-Präsidentschaft zusammenarbeiten, um diesen Gedanken voranzubringen. Eine enge internationale Zusammenarbeit auf der Grundlage gemeinsamer Werte, wie sie uns die UN-Charta vorgibt – das ist die einzige Möglichkeit, die Schrecken der Vergangenheit zu überwinden und eine vernünftige Zukunft zu gestalten.


Meine Damen und Herren, liebe Freunde, wir Deutsche haben nach den Schrecken, die wir vor allen Dingen mit dem Zweiten Weltkrieg angerichtet haben, erlebt, dass uns die Hand zur Versöhnung gereicht wurde, dass man der jungen Bundesrepublik viel Vertrauen entgegenbrachte. Nur so wurde unser Weg in die Weltgemeinschaft überhaupt möglich. Und ein Kern davon wurde die deutsch-französische Freundschaft. Das haben wir vorausschauenden, mutigen Frauen und Männern wie Robert Schuman, Jean Monnet und Konrad Adenauer zu verdanken. Sie haben den Weg dazu geebnet, alte Rivalitäten hinter sich zu lassen und auf friedlichen Ausgleich und Zusammenarbeit zu setzen. Es erfordert Mut, wenn man politische Verantwortung trägt, zu den Menschen zu gehen und zu sagen: Ich muss einen Kompromiss machen. Aber Kompromisslosigkeit ist der sichere Weg in einen großen Unfrieden.


Auch andere Nachbarn haben menschliche Größe und Mut zur Versöhnung gezeigt. Ich möchte an Władysław Bartoszewski aus Polen erinnern, der sich schon vor Kriegsende 1945 über eine künftige Verständigung zwischen Polen und Deutschen Gedanken gemacht hat. Heute sind wenige Vertreter aus Polen unter uns, weil Polen heute den 100. Jahrestag seiner Unabhängigkeit oder – mit dem Ende des Ersten Weltkriegs – eher die Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit feiert, weil es weit über 100 Jahre lang zwischen Deutschland und Russland geteilt war.


Viel zu lang konnten viele Menschen in Europa am Friedensprojekt nicht teilhaben. Der Kalte Krieg hatte sie getrennt. Aber es ist so, dass wir in Europa die Erfahrung gemacht haben, auch wieder zusammenzukommen – wir Deutsche ganz besonders.


Ich möchte Emmanuel Macron und den Initiatoren dieses Friedensforums dafür danken, dass es nicht nur Politiker sind, die hier mitmachen, sondern auch Nichtregierungsorganisationen, Verbände, Vereinigungen, Forscher, Bürgerinnen und Bürger. Denn Frieden kann kein Projekt nur von Politik sein, Frieden muss von den Menschen in unseren Ländern erarbeitet werden. Deshalb ist Friedensarbeit so vielfältig. Deshalb hoffe ich aus ganzem Herzen, dass dies keine Eintagsfliege ist, wie wir in Deutschland sagen würden, sondern dass daraus ein Prozess wird, dass aus diesem 100. Jahrestag des Waffenstillstands nach dem Ersten Weltkrieg ein Prozess für mehr Frieden wird. Ich mache mir keine Illusionen, dass dies ein komplizierter Weg ist. Aber wenn wir alle daran glauben, dass wir es gemeinsam anpacken müssen, dann haben wir eine Chance, eine bessere Welt zu gestalten. Und diese Chance müssen wir nach dem, was wir erlebt haben, nutzen.


Herzlichen Dank.