Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum "Tages der Deutschen Industrie"

  • Bundeskanzler ⏐ Startseite 
  • Olaf Scholz

  • Aktuelles

  • Kanzleramt

  • Mediathek 

  • Service

Sehr geehrter Herr Grillo,
sehr geehrte Präsidenten,
Exzellenzen,
Mitglieder der Parlamente,
meine Damen und Herren,

Sie laden jedes Jahr zum „Tag der Deutschen Industrie“ ein. Diese Treffen finden regelmäßig unter veränderten, oft auch dramatischen äußeren Umständen statt. Das bedeutet natürlich, dass auch Ihre Unternehmen, die Sie vertreten, auf sich permanent verändernde Rahmenbedingungen reagieren müssen, Antworten finden müssen, Wettbewerber auf den Weltmärkten, wenn möglich, in die Schranken weisen und Unsicherheiten aushalten müssen. Ich werbe dafür – ich glaube, das ist ein Teil dessen, was Herr Grillo angesprochen hat –, dass das Bild des Unternehmers – also eines Menschen, der etwas unternimmt, der aber nicht weiß, wie es morgen aussieht, der sich nicht auf bestimmte Sicherheiten verlassen kann, der immer wieder neu reagieren muss – in unserer Gesellschaft einen festen Platz haben muss. Da sind Sie wie auch die Politiker, aber Sie ganz besonders gefragt.

Herr Grillo hat es eben schon angesprochen: Stabilität und Frieden sind wesentliche Voraussetzungen dafür, dass überhaupt erst vernünftig gewirtschaftet werden kann. Wir mussten uns eigentlich über viele Jahre hinweg in Europa nicht allzu ernsthafte Gedanken darüber machen. Seitdem wir die Krise auf dem westlichen Balkan einigermaßen in den Griff bekommen hatten, schien uns Europa doch sicher zu sein. Aber die Krise in der Ukraine hat uns eines anderen belehrt und schmerzlich vor Augen geführt, dass Frieden, Freiheit und Stabilität niemals selbstverständlich sind und dass heute – das muss man zum russischen Partner sagen – wieder in Einflusssphären gedacht wird. Mit der Annexion der Krim, der anhaltenden Destabilisierung der Ostukraine, der Missachtung der territorialen Integrität und staatlichen Souveränität der Ukraine wird letztlich das Fundament unseres Zusammenlebens in Europa infrage gestellt. Das ist keine Bagatelle, sondern ein tiefgreifender Konflikt. Denn wenn die territoriale Integrität nicht mehr als unantastbares Prinzip in Europa gilt, ist auch das friedliche Zusammenleben in Europa gefährdet.

Deshalb danke ich Ihnen, Herr Grillo, und auch vielen anderen dafür, dass Sie immer wieder deutlich gemacht haben, dass sichere, verlässliche Rahmenbedingungen auch für die Wirtschaft so unabdingbar sind, dass Sie auch die schmerzlichen Einschnitte, die Sanktionen mit sich bringen, mittragen. Ich will hier noch einmal sagen: Sanktionen sind kein Selbstzweck, sondern sie wurden und werden erst dann beschlossen, wenn sie unvermeidlich sind. Da wir einerseits eine militärische Auseinandersetzung ausschließen, ist es auf der anderen Seite wichtig, deutlich zu machen, dass wir bestimmte Prinzipienverletzungen nicht hinnehmen werden. Ich glaube, wir sind uns einig: Die Ukraine hat wie jeder souveräne Staat das Recht, über seine Verfassung, seine gesellschaftliche, wirtschaftliche und internationale Ausrichtung selbst zu entscheiden. In einem Land wie Deutschland, das vor 24 Jahren die Deutsche Einheit im Einvernehmen mit den früheren Alliierten gestalten durfte, wissen wir, was das für ein Schatz ist. Wir haben aber auch eine Verpflichtung, anderen zu helfen, einen Weg der Selbstbestimmung gehen zu können.

Wir haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir bei aller Härte auch die Gesprächskanäle offenhalten, den Dialog pflegen und versuchen, die notwendigen Gespräche weiterzuführen. Es gibt kleine Erfolge, aber wir sind noch weit entfernt von einer wirklichen Lösung. Es gibt eine ganze Reihe von Unsicherheiten, die möglichst schnell beseitigt werden müssen. Ich verweise nur auf die von Kommissar Oettinger vorbereiteten Energiegespräche mit der Ukraine, die in den nächsten Tagen in Berlin stattfinden werden. Die europäische und die ukrainische Energie- und Gasversorgung sind sehr eng miteinander verbunden. Der Winter naht; die Zeit eilt.

Meine Damen und Herren, Herr Grillo hat richtigerweise davon gesprochen, dass wir als Exportnation gute globale Rahmenbedingungen im Handel brauchen. Handelspolitik ist eines der Felder, auf dem Wachstumsanreize möglich sind, ohne Geld zu kosten. Deshalb setzt sich die Bundesregierung für den weiteren Abschluss von Freihandelsabkommen ein. Es gibt unter anderem CETA, das Abkommen mit Kanada, das kurz vor seinem Abschluss steht und das wir sehr begrüßen. Weiterhin gibt es das sogenannte TTIP, das Abkommen zur Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft. Sie haben darauf hingewiesen, dass wir in den die Koalition tragenden Parteien intensiv darum ringen, dass es eine positive Grundstimmung hinsichtlich dieses Abkommens gibt. Ich und die gesamte Bundesregierung erwarten von ihm neue Wachstumsmöglichkeiten für uns in Deutschland und für ganz Europa.

Meine Damen und Herren, wenn wir uns anschauen, wie groß die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der Europäischen Union sind, wenn wir uns anschauen, wie andere Handelsabkommen zur wirtschaftlichen Belebung beigetragen haben – ich verweise zum Beispiel auf das Abkommen mit Südkorea –, dann ist es aus unserer Perspektive als Europäer, die wir ja unter Wachstumsschwäche leiden, geradezu wichtig, alles zu nutzen, um die beiden größten Binnenmärkte mit einem Freihandelsabkommen enger zu verbinden. Wann, wenn nicht jetzt, ist die richtige Zeit dafür?

Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie intensiv dafür eintreten. Es geht hierbei ja nicht nur um einen Abbau von Zollschranken, sondern es geht auch um einen Abbau von vielen nichttarifären Handelshemmnissen. Wenn wir uns anschauen, was an unterschiedlichen Tests für verschiedene Warengruppen durchzuführen ist, wie viel Geld man da sparen und es in Investitionen und Innovationen umlenken könnte, dann wissen wir, wie wichtig das für die Unternehmen ist. Ich glaube, dass das gerade auch für den Zugang mittelständischer Unternehmen zu neuen Märkten von allergrößter Bedeutung ist. Deshalb müssen wir immer wieder deutlich machen, auch gerade bei der Mitarbeiterschaft von großen Industrieunternehmen, dass es bei Steckern, Ventilen, Blinkern und bei allem, was man sich sonst noch denken kann, eben darum geht, dass uns heute zum Teil kaum sichtbare Handelshemmnisse das Leben schwer machen.

Wir müssen ein Höchstmaß an Transparenz sicherstellen. Wir müssen darüber aufklären, dass es eben nicht um Schlagworte wie „Chlorhühnchen“ und „Hormonfleisch“ geht, sondern dass es rote Linien gibt, die nicht überschritten werden, dass im Verbraucherschutz, im Umweltschutz keine Standards abgebaut und auch keine Arbeitnehmerrechte aufgeweicht werden, sondern dass wir unsere eigenen Chancen mit einem solchen Abkommen verbessern können.

Meine Damen und Herren, das gilt in einem Umfeld, in dem die Europäische Union jede Chance für Wachstum nutzen muss. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, unsere Wettbewerbsfähigkeit entspricht in vielen Bereichen nicht dem internationalen Standard. Deshalb haben wir nach der Europawahl als Mitglieder des Europäischen Rates und auch mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, darüber diskutiert: Wie sieht unsere strategische Agenda für die nächsten fünf Jahre aus? Es ist wichtig, dass wir uns am Weltstandard und nicht am Mittelmaß dessen messen, was die Europäische Union mit ihren 28 Mitgliedstaaten zu bieten hat. Ich glaube, wenn man sich die Zusammensetzung und den Aufbau der neuen Kommission anschaut, wird diesen Bedürfnissen und diesen Notwendigkeiten auch weit mehr und besser als früher Rechnung getragen.

Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum, Beschäftigung müssen im Zentrum stehen. Ich bleibe dabei: Das Fundament hierfür ist der gestärkte Stabilitäts- und Wachstumspakt. Dieser heißt im Übrigen von seinem ersten Tag an Stabilitäts- und Wachstumspakt. Schon in diesem Namen zeigt sich, dass Konsolidierung und Wachstum, also ordentliche Haushalte plus Wachstum, sich nicht etwa widersprechen, sondern nahtlos zusammengehören. Das ist zumindest unsere Überzeugung.

Ich will hier auch noch einmal sagen, dass die Glaubwürdigkeit Europas – die Krise im Euroraum war ja in weiten Teilen auch eine Vertrauenskrise – in umfassender Weise davon abhängt, ob wir das, was wir in den letzten drei bis fünf Jahren diskutiert haben, nunmehr auch einhalten. Das muss ja eigentlich die Lehre aus dieser Krise sein; das steht Wachstum natürlich nicht im Wege und deshalb wird Deutschland hier auch Verlässlichkeit einfordern.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt enthält im Übrigen ziemlich viele Flexibilitäten. Es ist nicht so, dass es nur eine Defizitgrenze von 3,0 Prozent gibt. Selbst bei einer Neuverschuldung von 3,0 Prozent ist man ja noch weit davon entfernt, nicht auf Kosten der Zukunft zu leben. Es wird ja immer so getan, als seien diese drei Prozent Neuverschuldung etwas, das vollkommen dramatisch sei, und als würde man dauernd Schulden zurückzahlen. Wir sind weit davon entfernt.

Meine Damen und Herren, wir müssen uns allerdings auch überlegen, wie Wachstum entstehen kann. Es gehört zu einem gemeinsamen Währungsgebiet auch dazu, dass man sich wirtschaftspolitisch besser abstimmt und dass man gerade auch hier eingegangene Verpflichtungen einhält. Mein Lieblingsbeispiel ist der Anteil in Höhe von drei Prozent der Forschungs- und Entwicklungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, der als Ziel im Jahr 2000 beschlossen wurde und bis 2014 von vielleicht vier von 28 Mitgliedstaaten erreicht wurde. Wir in Deutschland sind jetzt glücklicherweise in der Nähe dieser 3,0 Prozent.

Wir haben allerdings – das will ich hier deutlich sagen – in den letzten Jahren in Europa auch Fortschritte erzielt. In den Krisenländern steigt die Produktivität, die Leistungsbilanzen verbessern sich, Haushaltsdefizite wurden abgebaut, drei Länder haben ihre Hilfsprogramme verlassen können, Wachstum ist in diesen Ländern wieder sichtbar. Irland ist ein sehr gutes Beispiel; und auch Spanien und Portugal machen sehr große Fortschritte. Heute kommt der griechische Ministerpräsident nach Berlin. Auch Griechenland nähert sich wieder der Schwelle des Wachstums. Das heißt also, dass strukturelle Veränderungen nach einer bestimmten Zeit notwendige Erfolge wirklich mit sich bringen.

Meine Damen und Herren, natürlich brauchen wir Investitionen – öffentliche und private Investitionen. Die Bundesregierung arbeitet daran, weitere Schwerpunkte zu setzen. Zum einen geht es natürlich um Verkehrsinfrastruktur. Der Handlungsbedarf ist hier beträchtlich. Unsere Anstrengungen, was sowohl die Ausweitung der Lkw-Maut als auch die Einführung einer Pkw-Maut anbelangt, sowie die fünf Milliarden Euro, die wir im Vergleich zur letzten Legislaturperiode zusätzlich für Verkehrsinvestitionen zur Verfügung stellen, sind erste Schritte. Es wird aber in mittelfristiger Hinsicht sicherlich darauf ankommen, noch mehr Möglichkeiten zu finden, um privates Kapital im Zusammenhang mit öffentlichem Kapital und öffentlicher Sicherheit für Investitionen im Verkehrsinfrastrukturbereich zu mobilisieren.

Mindestens ebenso wichtig – Herr Grillo hat davon gesprochen – ist die digitale Infrastruktur. Wir leben in einer Zeit dramatischen Wandels, sofern es die Industrie anbelangt. Der „Tag der Deutschen Industrie“ ist mit den Worten „Die Zukunft der Industrie“ überschrieben. Wenn wir darüber reden, dann vor allem über die Verschmelzung der digitalen Welt mit der klassischen Industrie. Wie Deutschland aus dieser Phase herauskommt, wird entscheidend dafür sein, inwieweit uns im Bereich der industriellen Wertschöpfung Wohlstand in Zukunft überhaupt erwachsen kann. Darüber wird in dieser Legislaturperiode und vielleicht noch in den ersten beiden Jahren der nächsten – jedenfalls in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts – entschieden. Die Entwicklung vollzieht sich, wenn ich das richtig beobachte, in einer ziemlich atemberaubenden Geschwindigkeit. Deshalb ist es erstens wichtig, dass wir erkennen, wo wir im digitalen Bereich stehen – da gibt es Licht und Schatten. Und zweitens ist es wichtig, dass es denen, die in der industriellen Wertschöpfung zur Weltspitze zählen, gelingt, die Digitale Agenda in ihre Unternehmen hineinzubringen und es nicht den großen digitalen Playern der Welt überlassen, die reale Wertschöpfung zu sich zu lenken. Dieser Kampf findet statt; und dem muss sich Deutschland offensiv stellen.

Jetzt haben wir eigentlich drei Aufgaben. Die erste Aufgabe ist eine Aufgabe der Politik. Wir müssen in Deutschland, aber auch in Europa die Rahmenbedingungen so fassen, dass hier digitale Wertschöpfung stattfinden kann. Ich bin sehr zufrieden, dass Günther Oettinger in Zukunft das Ressort für digitale Wirtschaft und Gesellschaft übernimmt – und das in neuem Zuschnitt. Bislang war auf europäischer Ebene die Frage der Digitalen Agenda im Sinne der Festlegung von Rahmenbedingungen für Investitionen bei einer Kommissarin angesiedelt, während Konsumentenfragen bei einer anderen Kommissarin angesiedelt waren. Das hat dazu geführt, dass auf niedrige Endverbraucherpreise geachtet wurde, aber nicht auf die notwendige Investitionsstärke der agierenden Unternehmen. Das muss sich ändern. Günther Oettinger wird nun beides in einer Hand haben.

Durch die Stellvertreterstruktur in der Kommission wird es möglich sein, das Themenspektrum auch mit der Datenschutzgrundverordnung zu verzahnen, sodass wir dann wirklich zu dem Punkt kommen, an dem wir besser auf die Investitionsfähigkeit unserer Unternehmen achten können. Im Wettbewerbsrecht müssen wir Änderungen vornehmen, damit auch in Europa global agierende Unternehmen entstehen können und wir uns nicht völlig verzetteln und zerspalten. Mit der Datenschutzgrundverordnung kann auch das Fundament dafür gelegt werden, dass wir das Big-Data-Management auch wirklich beherrschen und dass es nicht nur vom Standpunkt der Datensicherheit aus betrachtet wird, sondern auch vom Standpunkt des Managements vieler Daten, aus dem neue Produkte entstehen werden.

Die Bundesregierung stellt sich mit ihrer Digitalen Agenda dieser Aufgabe. Ich sage Ihnen aber auch ganz ehrlich: Das wird von uns schwierige Entscheidungen in Fragen erfordern, bei denen wir auch noch keine Erfahrungswerte haben. Es stellt sich zum Beispiel die Frage: Wie definiere ich die Netzneutralität? Dieser Begriff wird immer so dahingesagt; es gibt aber Erwartungen der Netzcommunity und es gibt Erwartungen der Industrie. Hier müssen wir Vorschläge unterbreiten. Und dann müssen wir auch in einem sehr engen Dialog miteinander über die Frage sprechen: Hilft uns das bei der zukünftigen Wertschöpfung oder engt uns das in einem unglaublichen Maße ein? Das heißt, neben dem Ausbau der Breitbandleitungen wird sehr viel Regulatorisches zu besprechen sein. Dabei müssen wir auch das Thema Freiheit und Sicherheit – eine klassische Abwägungsfrage in der Sozialen Marktwirtschaft – in einem völlig neuen Umfeld wieder thematisieren.

Die Bundesregierung leistet ihren Beitrag dazu, dass mit der neuen Hightech-Strategie im Forschungsbereich die wesentlichen Felder gut abgedeckt sind. Wir haben die Anteile der Länder bei der Finanzierung der außeruniversitären Forschungsinstitutionen übernommen. Wir haben mit der Übernahme der BAföG-Leistungen der Notwendigkeit Rechnung getragen, dass die Universitäten besser ausgestattet sein sollten, sofern das freiwerdende Geld der Länder wirklich in den universitären Bereich hineingeht. Wir finanzieren mit dem Hochschulpakt annähernd 700.000 neue Studienplätze mit – mit dem Ergebnis, dass bereits mehr junge Menschen eines Schuljahrgangs ein Studium aufnehmen als eine Berufsausbildung anfangen.

Jetzt aber, so würde ich sagen, müssen wir langsam darauf achten, dass die zweite Säule, die duale Ausbildung, wieder gestärkt wird. Ich weiß, dass der neue Ausbildungspakt die Sache von Herrn Kramer und nicht direkt von Herrn Grillo ist; ich erwähne ihn an dieser Stelle aber trotzdem. Wir sollten versuchen, auch mit den Gewerkschaften eine Lösung zu finden. Wir wollen im Dezember einen Integrationsgipfel abhalten, auf dem wir das Thema Berufsausbildung von Migrantinnen und Migranten mit Blick auf die Fachkräftesicherung noch einmal aufnehmen.

Was mir Sorge bereitet – das muss ich sagen –, ist, dass wir regelmäßig von der OECD dafür gescholten werden, dass unser Anteil von Hochschulabsolventen unter dem Durchschnitt der OECD-Mitgliedstaaten liegt. Nun haben wir aber gerade festgestellt, dass die OECD-Mitgliedstaaten im Durchschnitt zu viele Hochschulabsolventen haben. Insofern muss man nun dafür Sorge tragen, dass wir sozusagen nicht dazu getrieben werden, etwas zu tun, das wir in anderen Ländern als Fehlentwicklung erkannt haben. Vor allen Dingen müssen wir dafür Sorge tragen, dass die Zahl der Hochschulanfänger und die Zahl der Hochschulabgänger sich annähern und dass diejenigen, die an Hochschulen zu studieren begonnen haben, später nicht ohne Berufsabschluss dastehen. Deshalb bin ich auch dem Handwerk und anderen Mittelständlern sehr dankbar dafür, dass man auch den Weg zurück von der Hochschule in die klassische Berufsausbildung eröffnet. Denn auch so ist natürlich Fachkräftepotenzial zu gewinnen.

Meine Damen und Herren, um noch einmal auf das Thema Digitale Agenda zurückzukommen: Wir werden im Oktober wieder einen IT-Gipfel haben – ein bewährtes Instrument, um die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft zu fördern. Im nächsten Jahr steht die nächste CeBIT an. Sie können uns beim Wort nehmen und müssen uns durchaus auch Mut zusprechen, dass wir die notwendigen Entscheidungen fällen werden. Das Feld ist bereitet; und es ist klar, was zu tun ist. Aber das muss jetzt auch wirklich umgesetzt werden.

Meine Damen und Herren, ein weiterer wesentlicher Punkt für den Industriestandort Deutschland ist natürlich das Thema Energie – möglichst Preisstabilität, Versorgungssicherheit, Umweltfreundlichkeit. Wir haben in einem beherzten ersten Schritt in dieser Legislaturperiode eine EEG-Novelle verabschiedet. Wir dürfen jetzt aber nicht stehenbleiben, vielmehr wird die gesamte Legislaturperiode von weiteren Entscheidungen geprägt sein, die in der Notwendigkeit gipfeln, das EEG noch stärker in marktwirtschaftliche Kanäle hineinzubringen – das heißt auch, Ausschreibungen vorzunehmen, die jeweils sicherlich nicht auf Landkreisniveau stattfinden dürfen. Der Ausschreibungsraum muss vielmehr so sein, dass wir uns auch wirklich einem europäischen Binnenmarkt nähern. Das wird aber noch große Kraftanstrengungen fordern.

Wir haben befriedigende Resultate bei der Besonderen Ausgleichsregelung erreicht. Wenn ich allerdings daran denke, wie viele Stunden viele Menschen in der Bundesregierung und in der deutschen Industrie allein mit der Verhinderung von Schäden verbracht haben, komme ich zu dem Schluss, dass man mit der neuen Kommission noch einmal darüber reden muss, dass wir Zeit eigentlich für die Gestaltung der Zukunft brauchen und nicht für die Verhinderung von Schäden.

Als nächstes wird es neben dem Leitungsausbau, den wir natürlich begleiten müssen und der ja zeitlich verzögert stattfindet, um das sogenannte Strommarktdesign und um die Frage der Kapazitätsmechanismen gehen. Auch hier wird noch eine große Kraftanstrengung notwendig sein, denn die Frage, wie man möglichst wettbewerbsfreundlich Kapazitätsmechanismen organisiert, damit ein Betreiber sein altes Kraftwerk gerne in einen Kapazitätsmechanismus überführt, ist eine Frage von großer finanzieller Tragweite; und irgendwann landet alles in einer Netzumlage oder einer sonstigen Umlage. Ich ahne aber schon, dass auch eine ganze Reihe industriepolitischer Betrachtungsweisen eine Rolle spielen könnte. Deshalb wird das nicht ganz ohne Konflikte gehen. Auch die Interessen der einzelnen Länder sind hier sehr unterschiedlich.

Im Zusammenhang mit der Energiewende bin ich dann auch beim Thema Klimaschutz angelangt. Wir werden im Dezember 2015 in Paris die entscheidende Konferenz für ein weltweites Rahmenabkommen mit hoffentlich verbindlichen Zielen durchführen. Die Europäische Union wird auf dem diesjährigen Oktoberrat hoffentlich ihre Beschlüsse fassen. Es geht dabei um unseren Beitrag, das weltweite Ziel der Zwei-Grad-Obergrenze bei der Erderwärmung einzuhalten. Dafür wollen wir in Deutschland die Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 senken. Die notwendigen Ergebnisse auf dem Weg dahin haben wir noch nicht. Als Bundesregierung werden wir relativ bald – noch im Herbst, weil wir dann einen Bericht vorlegen müssen – damit konfrontiert werden. Deshalb müssen wir uns vor allem überlegen: Was machen wir im Wärmemarkt? Der Wärmemarkt ist nach wie vor der schlafende Riese bei der Energieeinsparung; ich nenne Gebäudesanierung als ein Stichwort. Die Bundesregierung arbeitet daran, weitere Antworten zu finden. Hinsichtlich der europäischen Rahmenbedingungen müssen wir unglaublich eng zusammenarbeiten, was den Zertifikatehandel und die Reduktion der Zertifikatemengen anbelangt, um nicht wieder Wettbewerbsnachteile für unsere Industrie in Europa gegenüber anderen auf der Welt zu schaffen.

Meine Damen und Herren, ich will darauf verweisen, dass das, was akzeptiert ist, meistens keine weitere Beachtung findet. Trotzdem hat es Herr Grillo freundlicherweise auch noch gesagt: Steuererhöhungen finden nicht statt und sind auf absehbare Zeit auch nicht geplant. Wir reden jetzt wieder vermehrt über Möglichkeiten steuerlicher Anreize, zum Beispiel für Startups im digitalen Bereich. Unsere Haushaltsspielräume sind eng, wenn wir unsere Verpflichtungen einhalten wollen – und das sollten bzw. müssen wir tun –, in diesem Jahr einen strukturell ausgeglichenen Haushalt vorzulegen und im nächsten Jahr dann eine schwarze Null zu haben, wie es so schön heißt. Das ist aus deutscher Sicht auch sehr wichtig. Ich versuche in Europa eines immer wieder klarzustellen – und habe das gestern auch gegenüber dem französischen Premierminister getan –: Deutschland hat eine völlig andere demografische Herausforderung vor sich als zum Beispiel Frankreich. Wenn wir eher als ein Land wie Frankreich bei einer Null-Neuverschuldung angelangt sind, dann ist das nichts anderes als das Einbeziehen der berechtigten Interessen unserer Kinder und Enkel, die ja in Zukunft auch noch Investitionsspielräume brauchen. Insofern muss Deutschland auf die Bedingungen, die wir haben, reagieren.

Neben der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland und in ganz Europa ist es im deutschen und im europäischen Interesse, in den nächsten Jahren den europäischen Binnenmarkt nicht nur zu einem digitalen Binnenmarkt und einem Energiebinnenmarkt weiterzuentwickeln, sondern auch den Arbeitsmarkt Schritt für Schritt in einen europäischen Binnenmarkt umzuwandeln. Denn wir werden als ein Land, das in den nächsten zehn bis zwölf Jahren rund sechs Millionen Arbeitskräfte durch den demografischen Wandel verlieren wird, großes Interesse daran haben, auch Menschen aus anderen Ländern eine Chance zu geben. Das bedeutet, dass man mehr Sprachen lernen muss. Das bedeutet, dass man die sozialen Sicherungssysteme kompatibler macht – man wird sie in Europa nicht vereinheitlichen, aber sie müssen sozusagen aufeinander abstimmbar sein. Wenn ich sehe, wie wir die Deutsche Einheit gestaltet haben, auch dadurch, dass viele junge Menschen – ob man das mag oder nicht – aus meinem Wahlkreis an der Ostsee nach München, nach Stuttgart oder sonst wohin in den Süden Deutschlands gegangen sind, dann denke ich, dass es sein kann, dass wir eben auch Arbeitskräfte aus anderen Ländern in Deutschland brauchen. Das eint uns ja auch.

Ich hätte es gerne, dass der Anteil der deutschen Industrie an der Bruttowertschöpfung weiterhin bei über 20 Prozent liegt. Mit den Dingen, die ich angesprochen habe, haben wir gute Grundlagen für eine gemeinsame Zusammenarbeit.

Ich bedanke mich auch für Ihre Worte über das Ethos, die Sie zum Schluss gesagt haben, und für Ihre Worte zur Frage der Akzeptanz der Wirtschaft. Es ist richtig, dass vereinzelt großer Schaden angerichtet wurde. Noch wichtiger ist vielleicht, dass es heute bei aller Bedeutung der Industrie sehr viele Bereiche der Beschäftigung gibt, die keiner klassischen Tarifbindung mehr unterliegen und in denen nicht mehr ausgebildet wird, in denen also die Tugenden, die die Soziale Marktwirtschaft deutlich gemacht hat, von den Menschen nicht mehr erlebt werden. In den neuen Bundesländern sind deutlich unter 50 Prozent aller Arbeitsplätze nicht tarifgebunden. In den alten Bundesländern sind wir in etwa bei der Hälfte. Das heißt, etwa die Hälfte der Beschäftigten – und diese sind nicht in den großen deutschen Industrieunternehmen tätig – hat Arbeitsbedingungen, die von denen, die etwa im IG-Metall-Bereich ganz selbstverständlich sind, weit abweichen. Auch das müssen wir im Blick haben. Deshalb meine Bitte: Achten Sie darauf, dass auch in den Bereichen, die Sie manchmal outgesourced haben – im Logistikbereich, in Dienstleistungsbereichen usw. –, Soziale Marktwirtschaft für die Menschen gelebt werden kann. Das wird zum Schluss der Kernindustrie helfen.

Herzlichen Dank und alles Gute.