Rede von Bundeskanzlerin Merkel beim Digital-Gipfel am 4. Dezember 2018 in Nürnberg

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Meine Damen und Herren,

lieber Herr Berg,

liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Kabinett,

vor allem auch lieber Ministerpräsident Markus Söder, hier Gastgeber,


ich freue mich, dass ich auch dieses Jahr wieder beim Digital-Gipfel dabei sein kann und dass Sie alle dabei sind. Wir hatten eben ein Mittagessen, bei dem wir Revue haben passieren lassen, was zwischen zwei Digital-Gipfeln geleistet worden ist und welche Art von Arbeit stattgefunden hat.


Ich darf Ihnen als Erstes berichten, dass wir im 70. Jahr der Sozialen Marktwirtschaft fest davon überzeugt sind, dass auch die digitale Wirtschaft und das Zeitalter der Digitalisierung dem Menschen zu dienen haben und nicht umgekehrt. Das Ganze ist kein Selbstzweck.


Wir haben heute auf unseren BPA-Twitteraccount oder, besser gesagt, auf den seibertschen Twitteraccount, also den des Regierungssprechers – ich mache jetzt einen kleinen Werbeblock –, ein kleines Stück gestellt, das sich auch mit Künstlicher Intelligenz befasst. Darin sagt das Mitglied des Digitalrates, Herr Boos, dass wir durch Künstliche Intelligenz vor allen Dingen Lebenszeit einsparen, nämlich Zeit für stupide oder sich wiederholende Algorithmen, und dass wir damit mehr Zeit für Kreativität haben; also eine gute Nachricht, jedenfalls für alle, die nicht denkfaul sind.


Die Frage, wie wir die Gesellschaft im Zeitalter der Digitalisierung gestalten, treibt uns umfassend um. Das stellt sich auch in den Plattformen dar, die über das Jahr hinweg arbeiten – immer in einer Mischung aus Industrievertretern, Wirtschaftsvertretern und Vertretern der Politik. Damit haben wir in den letzten Jahren auch eine Arbeits- und Lernmethode für uns in der Politik entwickelt, wobei sehr deutlich geworden ist, dass wir alle uns sozusagen in einer Sphäre befinden, in der wir uns noch nicht so gut auskennen. Ich habe früher dazu einmal „Neuland“ gesagt. Das hat mir einen großen Shitstorm eingebracht. Deshalb will ich das jetzt nicht einfach wiederholen. Jedenfalls ist es aber in gewisser Weise noch nicht durchschrittenes Terrain.


Das Ganze ist im Grunde eine revolutionäre Phase. Wir alle haben uns ja auch angewöhnt, das Wort „disruptiv“ relativ flüssig über unsere Lippen zu bringen. Diese disruptive Phase bedeutet natürlich Erschütterungen. Ich stimme Ihnen völlig zu, Herr Berg, dass vieles, was wir heute an gesellschaftlichen Phänomenen, an Diskussionskultur und auch an Sorgen und Ängsten erleben, indirekt mit dem rasanten technologischen Wandel zu tun hat und dass es, um das Ganze nicht in eine Diskussion abgleiten zu lassen, in der ein Teil der Gesellschaft als Elite bezeichnet wird und ein anderer als zurückgelassen, uns darauf ankommen muss, dass das eine Erfolgsgeschichte wird, wie es im Grunde auch die Soziale Marktwirtschaft ist. Wohlstand für alle – das muss auch die Zukunftsmelodie im Zeitalter der Digitalisierung sein.


Das heißt, dass wir natürlich erst einmal die infrastrukturellen Voraussetzungen brauchen, um neue technologische Möglichkeiten nutzen zu können. Dabei geht es eben um die digitalen Netze. Ich habe jetzt auch mit einigem Erstaunen die lebendige Diskussion über 5G mitverfolgt. Vielleicht ist sie deshalb so lebendig, weil zum allerersten Mal in aller Breite zu den Menschen dringt, dass wir Frequenzbereiche haben und dass der Zugang zu dieser Technologie nur über Versteigerung möglich wird. Ich wage einmal die Aussage: Wenn wir keine Funklöcher mehr hätten, wäre das Interesse an 5G nicht so groß. Im Grunde führen wir eine Ersatzdiskussion. 5G tritt an die Stelle all der Wünsche von Menschen, die heute kaum ein Telefonat führen, geschweige denn bewegte Bilder sehen können, wenn sie auf irgendeiner Wiese oder an irgendeinem Strand sitzen. Noch vor wenigen Jahren haben wir gedacht, dass wir die Schlacht gewonnen haben, wenn wir jeden Haushalt anschließen. Aber die Erwartungen wachsen eben in rasantem Maße, weshalb es wichtig sein wird, zu sagen: Nicht überall braucht man die Tonqualität der Berliner Philharmonie, aber überall sollte man irgendwie Töne hören können. Das ist es, was im Grunde jetzt bei der Infrastrukturdiskussion zu leisten ist. Dann wird man auch zufrieden sein.


Zum wirtschaftlichen Bereich. Was jetzt stattfindet – das ist ein ganz entscheidender Punkt für ein Industrieland wie Deutschland, in dem ein großer Teil der Wertschöpfung noch über die industrielle Fertigung stattfindet –, ist die Digitalisierung der Herstellungsprozesse und die Digitalisierung der Prozesse zwischen Unternehmen und Kunden. Hierbei sind wir, denke ich, in einigen Bereichen sehr, sehr gut. Wir haben weltweite Champions. Aber wir haben vielleicht die Durchdringung in die Masse der mittelständischen Unternehmen noch nicht so weit vorangebracht, wie es sein sollte. Da wir ja ein Land sind, von dem wir mit Stolz immer wieder gesagt haben, dass der Mittelstand das Rückgrat unserer industriellen Wertschöpfung ist, müssen wir wirklich sehen, dass die großen Frontrunners die anderen sozusagen mitnehmen. Das ist auch eine Aufgabe für Handwerkskammern, für Industrie- und Handelskammern. Es ist im Grunde eine Bildungsaufgabe, die wir leisten müssen. Ich denke, auch die Bundesregierung ist bereit, ihren Beitrag dazu zu leisten.


Für diese wirtschaftliche Wertschöpfung haben wir den Begriff Industrie 4.0 geprägt. Er dürfte auf einem der IT-Gipfel gefallen sein und hat sich dann ganz gut weltweit verbreitet. Wir haben heute noch einmal darüber gesprochen, dass wir, auch was die Standardisierung der Prozesse anbelangt, sehr, sehr gut mit dabei sind. Man kann selbst in Asien und anderswo von Industrie 4.0 hören. Hier sind wir also durchaus Trendsetter.


Jetzt machen wir uns – glücklicherweise, wie ich finde; dafür möchte ich mich gerade auch bei den Gewerkschaften sehr bedanken, insbesondere bei der IG Metall – auch Gedanken darüber, was das für unsere Arbeitswelt bedeutet und wie sich unsere Arbeitswelt verändern wird. Herr Hofmann hat heute sehr deutlich gemacht, dass man im Grunde, was die Berufsbilder und die Qualifikationen anbelangt, noch sehr viel mehr in die Zukunft schauen müsste, um die richtigen Qualifikationen gerade auch jüngeren Menschen an die Hand zu geben, aber auch um Umschulungs- und Weiterqualifizierungsinitiativen zu starten.


Die Bundesregierung hat sich in dieser Legislaturperiode eben nicht nur den Fragen verschrieben, wie wir zur Infrastruktur kommen, wie wir die industriellen Prozesse begleiten können und wie wir die wissenschaftliche Position stärken können, sondern eben auch den Fragen der Qualifizierung und Weiterbildung. Ich halte das für sehr, sehr wichtig – im Übrigen nicht nur im akademischen Bereich, sondern vor allen Dingen auch im Berufsbildungsbereich. Ich glaube, die zweite Säule unseres Bildungssystems, die berufliche Bildung, kann und wird eine Zukunft haben. Es bedarf aber einer sehr schnellen Erarbeitung neuer Berufsbilder oder zumindest einer Erneuerung der bestehenden Berufsbilder. Dabei ist der Faktor Zeit natürlich auch eine entscheidende Sache. Das ist überhaupt das Entscheidende – dass wir in einer Welt leben, in der sich die Dinge plötzlich sehr beschleunigen, weil es eben völlig neue Technologien gibt. Die Frage ist: Sind wir in Deutschland schnell genug, um das auch wirklich alles durchzusetzen?


Damit komme ich zu einer Plattform, die sich mit der Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung beschäftigt. Wir haben – noch in der vergangenen Legislaturperiode – das Onlinezugangsgesetz verabschiedet. Wir haben in einem handstreichartigen Verfahren seitens der Bundesregierung, nämlich im Zusammenhang mit den Bund-Länder-Finanzverhandlungen, eine Grundgesetzänderung durchgesetzt, die es uns erlaubt, mit den Ländern und Kommunen ein gemeinsames Portal zu betreiben. Die Bundesländer waren damals im Wesentlichen am Geld interessiert und haben gesagt: Na gut, wenn die jetzt noch irgendwie eine Grundgesetzänderung machen, aber dafür gut zahlen, dann sollen sie das bekommen. Das versetzt uns in die Lage, die 575 Dienstleistungen, die der Staat mit seinen Bürgern abwickelt, bis Ende 2022 über ein einheitliches Bürgerportal für den einzelnen Bürger abrufbar zu machen.


Die Kunst besteht jetzt darin – Staatssekretär Vitt aus dem Bundesinnenministerium, der dafür zuständig ist, hat sozusagen gleich am Anfang diese allerentscheidendste Aufgabe –, dem Bürger einen Zugang zu ermöglichen, der nicht so kompliziert ist, dass er immer noch zwei Geräte in der Tasche haben muss, in die er irgendetwas hineinsteckt, sondern dass man leicht darankommt. Das ist mein herzlicher Wunsch, was das Bürgerportal anbelangt. Dann werden wir das auch zu einem Erfolg machen.


Ich verspreche mir von diesem Bürgerportal nicht nur ein Zusammenwachsen der Republik – es wird nämlich ein tolles Gefühl sein, wenn der Bürger in Vorpommern genauso schnell an seine Amtskontakte herankommt wie der Bürger in der City von München; unter dem Motto „gleichwertige Lebensverhältnisse“ ist das ein Riesenschritt, den wir mit diesem Online-Bürgerportal machen können –, sondern es wird auch das Verständnis für die Digitalisierung erheblich erhöhen, das wir ja brauchen, um überhaupt eine gesellschaftliche Akzeptanz für all die vielen Regeln und Gesetze zu bekommen, die wir neu einführen müssen.


Nun gibt es noch die Frage der Bildung. Herr Berg hat eben sehr abfällig über die Kulturhoheit der Länder gesprochen. Das fordert mich als Bundeskanzlerin dazu heraus, die Länder einmal in Schutz zu nehmen. Sie haben recht: Wenn man das Richtige nur an manchen Stellen in Deutschland lernt und an anderen weniger, dann ist das nicht gut. Wenn aber etwas Falsches gelehrt wird, dann ist es manchmal ganz gut, dass das nicht gleich alle Kinder in Deutschland betrifft, sondern nur manche. So erkläre ich mir immer die in der Tat sehr schwierige Kulturhoheit und die Frage, warum wir im Bund nicht über die Schulen sprechen sollen.


Ich glaube also, das Problem besteht nicht so sehr darin, dass man den Digitalpakt Schule schlecht findet. Wir wollen die Schulen ja gar nicht alleine mit Computern ausstatten, sondern wir wollen zum Beispiel eine gemeinsame Lehr-Cloud anbieten, aus der sich dann jedes Bundesland und jede Schule das herausnehmen kann, was jedes Bundesland und jede Schule will. Wir wollen uns um die Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer kümmern. Wir wollen über eine Sonderausschreibung für den Breitbandanschluss jeder Schule sorgen. Das sind, glaube ich, alles sehr willkommene Dinge. Die Frage beim Digitalpakt war nur: Soll die Kostenaufteilung 90 zu 10 – 90 der Bund, 10 die Länder – sein? So weit, so gut. Aber bei allen weiteren, zusätzlichen Dingen soll die Aufteilung 50 zu 50 sein; und das gefällt den Ländern nicht so richtig. Da liegt der Hase im Pfeffer, glaube ich. Was Bayern angeht, ist es ganz anders; die haben immer Geld. Wir werden aber sicherlich mit dem Digitalpakt Schule vorankommen.


Wir haben auch erhebliche Fortschritte erreicht, was das ganze Thema Cybersicherheit angeht. Wir haben hier auch darüber schon des Öfteren gesprochen. Ich glaube, die Wichtigkeit dessen, wie entscheidend das für unser Betreiben der Infrastruktur ist, ist jetzt auch in der deutschen Wirtschaft weitestgehend anerkannt. Wir werden hierbei noch erhebliche Aufgaben vor uns haben, aber ich denke, mit unserem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik haben wir eine wirklich sehr, sehr gute zivile Institution, die zum Schutz für unsere Wirtschaft, aber eben auch für unsere öffentliche Infrastruktur da ist.


Ich habe zwei Plattformen noch nicht erwähnt. Die eine ist – Herr Doetz hat uns darauf hingewiesen, dass das Urheberrecht und der Content nicht immer identisch sind –, dass es auf jeden Fall wichtig ist, dass wir Content, also Inhalt, schützen und dass ein erarbeiteter Inhalt weiterhin seinen Wert behält. Die Idee, man könnte sozusagen eine digitale Welt schaffen, in der alles genau andersherum als in der realen ist, wird nicht aufgehen. Bestimmte Grundprinzipien müssen auch in der digitalen Welt durchgesetzt werden. Und dazu gehört natürlich auch die Bepreisung von Kreativität. Ansonsten werden wir eine fürchterliche Verflachung von Inhalten bekommen, die wir nicht akzeptieren können. Hierbei haben wir noch viel zu tun.


Dann hatten wir – last, but not least – das Thema Datensouveränität, Datenschutz, Datensicherheit und damit Verbraucherschutz. Da komme ich zu meinem Anfangspunkt zurück: 70 Jahre Soziale Marktwirtschaft, 70 Jahre Wirtschaft im Dienste des Menschen – das bedeutet natürlich auch, dass der Mensch nicht hinterrücks ausgebeutet werden darf, indem er sozusagen ein kostenloser Datenlieferant wird und anschließend keinerlei Hoheit mehr über diese Daten hat. Das bedeutet nämlich, in der Endkonsequenz gedacht, sozusagen die Vernichtung der Individualität. Das kann und darf nicht unser Ziel sein. Deshalb müssen wir versuchen, das rechte Maß zu finden. Aber Chancen und Risiken liegen natürlich eng beieinander.


Es gibt ein hohes Maß an Datenzugriff durch private Unternehmen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Es gibt ein hohes Maß an Datenzugriff durch den Staat in China. Das sind zwei Extrempositionen, die wir beide nicht wollen und die auch dem Wesen der Sozialen Marktwirtschaft nicht entsprechen. Soziale Marktwirtschaft ist niemals reiner Kapitalismus oder so etwas. Deshalb ist es jetzt eben unsere Aufgabe, den richtigen Weg zu finden. Wenn man einmal sieht, wie unterschiedlich die Rezeption der Datenschutz-Grundverordnung ist – zum Beispiel innerhalb der CDU, in der man wegen der Datenschutz-Grundverordnung nicht mehr weiß, ob man seinen Nachbarkreisverband noch anschreiben darf, oder aber in der Welt, in der man sagt: Das ist der erste Versuch, einmal vernünftig mit Daten umzugehen und dem Individuum wieder die Hoheit zu geben –, dann sind wir da schon auf dem richtigen Weg. Und ich glaube, dass wir daraus eines Tages auch wirklich großen Profit ziehen können.


(Ein Handy im Saal klingelt.)


 – Klingelt es bei mir oder bei einem anderen? Da bin ich jetzt nicht ganz sicher. Ich glaube, ich bin es nicht; ich kann Sie beruhigen. Es braucht keiner nachzuforschen, wer der Schuldige ist. Der Ton ist aber meinem nämlich sehr ähnlich.


Meine Damen und Herren, ich glaube, es war wieder ein wichtiger Digital-Gipfel – einer, der danach ruft, die Arbeit fortzusetzen. Wir sind mitten in der Arbeit. Normalerweise müsste ich jetzt sagen, wo der nächste Gipfel stattfinden wird. Das kann ich nicht, weil dieses Terrain hart umkämpft ist. Der Bundeswirtschaftsminister hat zugesagt, baldmöglichst zu entscheiden – und dann gleich für zwei aufeinanderfolgende Jahre. Warten Sie also gespannt auf das, was kommt.


Herzlichen Dank.