Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Veranstaltung „60 Jahre Gastarbeiter in Deutschland“ am 7. Dezember 2015

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Sehr geehrte Frau Staatsministerin,
sehr geehrte Frau Garavini
und vor allen Dingen Sie, die Gästeschar heute, die – wie man damals sagte – Gastarbeiter, die Vertreter der ersten Generation sowie der zweiten, dritten und wahrscheinlich auch vierten Generation,

ich heiße Sie ganz herzlich willkommen. Mir war es in der Tat ein Anliegen, heute anlässlich dieses Jubiläums wenigstens ein kurzes Grußwort zu sprechen. Sie sehen schon am Tausch der Rednerreihenfolge, dass Frau Garavini mich vorgelassen hat, weil ich gleich wieder gehen muss. Aber ich heiße Sie ganz herzlich hier im Bundeskanzleramt willkommen.

Wir sind seit dem ersten Anwerbeabkommen 60 Jahre weiter. Man könnte vielleicht aus der Perspektive von manch einem von Ihnen sagen: Kinder, wie die Zeit vergeht. Manches vergeht ja wie im Fluge. Ich möchte nicht nur den Blick auf diejenigen richten, die damals in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, sondern auch auf diejenigen, die in der ehemaligen DDR angeworben wurden. Ich erinnere mich persönlich noch sehr gut daran, dass die Angeworbenen insbesondere aus Vietnam, Mosambik und Angola extrem schwierige Lebensbedingungen hatten. Es gab Beschränkungen der Bewegungsfreiheit und vieles andere mehr. Aber auch der Start für diejenigen, die in die alte Bundesrepublik Deutschland gekommen waren, war ja alles andere als einfach.

Mir ist eben durch den Kopf gegangen, dass man heute in Gesprächen mit Vertretern der deutschen Wirtschaft merkt, dass es eine gewisse Erwartungshaltung gibt, was ankommende Flüchtlinge schon können müssten. Ihnen hingegen hatte man damals ein Buch mit dem Titel „Deutsch für Fremde“ in die Hand gedrückt und gesagt: So, das wird schon irgendwie gehen. Nun weiß ich, dass sich die Arbeitsverhältnisse fortentwickelt haben, dass sicherlich die Tätigkeiten heute zum Teil viel technisierter geworden sind. Ich will aber noch einmal das sagen, was auch Frau Özoğuz gesagt hat: Wenn man bedenkt, dass Sie einfach in kaltes Wasser geworfen wurden, dass Sie arbeiten und sich bewähren mussten, dass Sie mit völlig neuen Kollegen zu tun hatten, dass Sie zum großen Teil noch ohne Familie in ziemlich spartanischen Unterkünften gelebt und wohl vor allem am Wochenende immer wieder an die Heimat gedacht haben, dann kann man auch erahnen, was Sie damals geleistet und auf sich genommen haben. Sie haben Deutschland mit seinem Wirtschaftswunder, von dem wir heute sprechen, geholfen und daran mitgearbeitet. Mit den Lohnabzügen, die Sie auf Ihren Lohnabrechnungen gesehen haben, haben Sie soziale Leistungen mitfinanziert. Diese haben Sie sich genauso wie jeder verdient, der hier in Deutschland geboren wurde. Ein herzliches Dankeschön für all das, was Sie für unser Land getan haben.

Ich weiß nicht – ich habe ja an den Diskussionen nicht so intensiv teilgenommen; Rita Süssmuth könnte mir das aus der Perspektive einer aufgeklärten CDU-Frau noch einmal in allen Einzelheiten erklären –, wann das Dämmern begann und das Wort „Gastarbeiter“ in seinen verschiedenen Zusammensetzungen ins Wanken geriet; zuerst – die Ölkrise ist hier erwähnt worden – aufgrund der Tatsache, dass Arbeitslosigkeit dazukam, dass ein unglaublicher Strukturwandel einsetzte, dass Fähigkeiten, die in den 50er und 60er Jahren gefragt waren, in den 70er Jahren nicht mehr so gefragt waren. Manch einer hat diesen Übergang nicht geschafft, andere haben ihn geschafft.

Ich will an dieser Stelle noch einmal den Gewerkschaften ein herzliches Dankeschön sagen. Ich weiß, dass Gewerkschaften im Grunde die ersten waren, die mit der Integration in die Unternehmen auch die Selbstbehauptung, die Gleichberechtigung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Gastländern gefördert haben, dass sie sich darum gekümmert haben, dass sie Teil der Betriebsräte werden konnten, dass ihre Anliegen vertreten wurden. Damit ist ein erster großer Integrationsschritt geschehen.

Ich erinnere mich daran, als wir schon einmal Gastarbeiter der ersten Stunde eingeladen hatten, dass Herr Hambrecht, der damals noch BASF-Chef war, und ein italienischer Gastarbeiter davon erzählten, wie Herr Hambrecht ein bisschen Italienisch gelernt hat und im Gegenzug der Arbeitnehmer Deutsch gelernt hat. Man hat sich also auch gegenseitig geholfen, man hat viele Brücken gebaut. Deshalb muss man auch den deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den Betrieben von damals ein Dankeschön sagen, die sich aufgeschlossen zeigten.

Aus dem Gastarbeiter ist irgendwann ein ganz normaler Bürger geworden – manche mit Übernahme der Staatsbürgerschaft, andere, indem sie ihre alte Staatsbürgerschaft beibehalten haben und trotzdem ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gesucht haben. Wir als diejenigen, die in Deutschland geboren sind, können uns gar nicht so richtig vorstellen, wie es ist, wenn man noch nicht ganz zu dem einen Land gehört und immer wieder komisch angeschaut wird und wenn man aber auch in dem anderen Land nicht mehr so angesehen wird, als ob man von dort wäre – wenn also schon ein Stück weit Entfremdung gewachsen ist. Auch wenn es die eigenen Wurzeln sind, fragen trotzdem die Leute: Bist du jetzt noch zu hundert Prozent jemand von uns? Das auszuhalten, so zu leben und sich als Mensch und Familie doch wohlzufühlen, ist, glaube ich, eine große Herausforderung. Der Film mit dem Titel „Almanya“ zeigt das auf eine witzige Art und Weise. Aber wir machen uns darüber oft gar keine Gedanken.

Eines muss ich ehrlich sagen: Als ich mit dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdoğan auf der Hannover Messe war und uns ein Projekt eines gemeinsam entwickelten deutsch-türkischen Traktors erklärt wurde, wobei es geradezu einen Lärm der Begeisterung gab – „Jetzt müssen Sie sich das einmal anschauen; wir haben 15 Jahre daran gearbeitet“ –, habe ich gedacht: Oh je, oh je, was machen wir eigentlich mit den ehemaligen und heutigen Arbeitern, unseren Mitbürgern, den damaligen Gastarbeitern? Wie müssen sie sich manchmal fühlen, wenn wir immer streng schauen, wenn es einfach ein bisschen lauter zugeht, weil sie ein bisschen emotionaler sein wollen, sie sich aber denken: Ach Gott, die Deutschen; jetzt sind sie schon wieder in Habachtstellung.

Ich habe gerade mit Frau Özoğuz darüber gesprochen. Ich glaube, wir haben von Gastarbeitern ein wenig übernommen, dass man in Restaurants auch draußen sitzt, dass man ein bisschen lockerer an die Dinge herangeht, dass man offener sein kann und dass nicht mehr alles so sehr genormt ist. Das hat den Deutschen auch ganz gutgetan und sie haben mitgemacht. Ganz so emotional – insbesondere, wenn man aus dem Norden kommt – sind wir vielleicht immer noch nicht, aber es wird besser. Wir haben also doch gewisse Inspirationen angenommen.

Eines ist klar: Das, was damals die Triebfeder für Ihr Kommen war, war die Arbeit. Das ist auch heute die beste Integrationsform, die man sich denken kann. Da, wo große Arbeitslosigkeit herrscht – wenn ich zum Beispiel an Berlin denke, wo man über mehrere Generationen nicht aus der Arbeitslosigkeit herausgekommen ist, wo es einen Strukturwandel gegeben hat, aber ohne dass Arbeitsmöglichkeiten so nachgewachsen sind, wie man sich das wünschen würde –, ist Integration natürlich extrem schwer.

Natürlich müssen wir auch über die Fragen sprechen, wie viel die Frauen tun dürfen, wenn sie nicht gerade Arbeitnehmerinnen sind, und wie viele Parallelgesellschaften es an manchen Stellen noch gibt. Es gibt zwar schon seit langem Integrationskurse. Aber ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich einmal ein Integrationsprojekt in Hamburg besucht habe, dass ich damals mit Frauen vermutlich der zweiten Generation gesprochen und gesagt habe: Laden Sie doch einmal Kollegen Ihrer Männer ein, wenn Sie jetzt die Kinder erziehen und den Spracherwerb nicht fortentwickeln können, nachdem Sie den Integrationskurs absolviert haben. Dann sagten sie: Ja, aber die Kollegen unserer Männer sind auch alles Leute, die aus anderen Ländern kommen. Es ist gar nicht so einfach, in die deutsche Gesellschaft hineinzuwachsen. Manchen ist es super gelungen, bei anderen ist es nach wie vor schwierig. Wir müssen offen sein und müssen wirklich darüber sprechen.

Ich habe am EU-Projekttag in diesem Jahr eine Schule in Neukölln besucht. Dort bestehen die Klassen zu 90, 95 Prozent aus Kindern mit Migrationshintergrund. Wir haben unter anderem darüber geredet, ob man einen Austausch mit einer Schule in Marzahn oder in Dahlem machen könnte, damit man sich gegenseitig ein bisschen besser kennenlernt. Zum Schluss sagte ein deutsches Mädchen, deren Eltern und Großeltern schon in Deutschland waren, dass man über sie hier gar nicht gesprochen habe; sie habe es manchmal auch nicht einfach. Das muss man auch sagen. So, wie über das Essen oder dieses und jenes im Zusammenhang mit türkischen oder italienischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen gesprochen wurde, sagte sie, so ginge es auch ihr. Sie würde immer „Kartoffel“ genannt werden. Das fand sie nicht so schön, zumal sie gar nicht gerne Kartoffeln isst. So etwas gibt es also auch.

Wir haben durchaus dazugelernt. Es gibt Integrationskurse, die ich für absolut wichtig halte. Es gibt mehr Offenheit. Wir haben auch in der Koalitionsvereinbarung – das ist CDU und CSU sehr schwer gefallen – für die Jüngeren die doppelte Staatsbürgerschaft anerkannt. Wir haben uns hierbei schwerer getan als andere, aber für manches ist eine Große Koalition auch gut. Und Sie werden heute in das Kanzleramt eingeladen. Als ich Bundeskanzlerin wurde, habe ich mir überlegt, dass es nicht schlecht wäre, wenn man die Frage der Integration im Familienministerium ansiedeln würde. Aber eigentlich betrifft das Thema Integration so viele Gebiete, dass es doch nicht schlecht wäre, eine Staatsministerin im Kanzleramt zu haben. Daran hatte damals noch keiner gedacht. Franz Müntefering, der in der damaligen Großen Koalition für die SPD die Ordnung herstellte, sagte: Ja, keine schlechte Idee; machen Sie mal. Dann hat sich das entwickelt. Frau Böhmer hat das Amt für viele Jahre übernommen. Im Rahmen der jüngsten Regierungsbildung hat Herr Gabriel gesagt: Jetzt wollen wir dort aber Frau Özoğuz platzieren. Nachdem sich am Anfang überhaupt keiner darum gekümmert hat, ob eine Staatsministerin im Kanzleramt etwas Gutes ist, gab es in dieser Koalition einen richtigen Kampf darum. Und die CDU war richtig traurig, dass sie das Amt der Staatsministerin nicht wieder besetzen durfte und dass Frau Özoğuz Staatsministerin geworden ist. Aber wir haben uns vorgenommen, dass wir uns um des Themas willen gut vertragen. So haben wir bei den Integrationstreffen zum Beispiel die Themen Ausbildung und Gesundheit bearbeitet.

Ich möchte mich bei den vielen, die in Migrantenorganisationen mitarbeiten, ganz herzlich für das bedanken, was sie einbringen und an ehrenamtlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit leisten. Ich möchte denen danken, die Unternehmerinnen und Unternehmer geworden sind und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Ich möchte sagen: Tun Sie das weiter. Sie sind herzlich willkommen.

Manchmal bin ich ein bisschen traurig darüber, warum immer wieder parallele Organisationen entstehen, so zum Beispiel ein türkischer Unternehmerverband. Dann frage ich: Warum kommt ihr nicht in den BDI? Dann wird mir gesagt: Tja, wir müssen erst einmal noch ein bisschen stärker werden; und dann werden wir vielleicht auch einmal mit anderen zusammengehen. Ich möchte Ihnen sagen: Seien Sie selbstbewusst. Sie haben allen Grund dazu. Lassen Sie sich nicht unterbuttern. Auch andere kochen nur mit Wasser.

Sie sind hier herzlich willkommen und sind Teil von uns. Niemand muss seine Wurzeln in irgendeiner Art und Weise vergessen – im Gegenteil. Viele von Ihnen haben ja Erfahrungen, die wir gar nicht einbringen können. In zwei Ländern ein bisschen zu Hause zu sein – bei uns hoffentlich ganz, aber in einem anderen Land auch noch –, ist doch ein unheimliches Plus. Denn wenn wir heute über die Welt reden, dann spüren wir doch alle, wie sie zusammenwächst. Dann spüren wir doch, dass man kaum mehr damit auskommt, sich nur in einem Land auszukennen, sondern dass man sich in Europa auskennen muss und dass man sich auch in der Welt auskennen sollte.

Wir müssen auch als diejenigen, deren Familien schon seit Jahrhunderten in Deutschland leben, lernen, dass Offenheit und Neugierde auf andere Kulturen uns doch nichts wegnehmen, sondern bereichern. Wenn man einmal wieder in die Bibel schauen muss, weil man mit jemandem über den Koran spricht, dann ist das auch kein Fehler. Denn so bibelfest sind viele Deutsche auch nicht mehr, wie sie manchmal tun. Das heißt also, wir müssen Integration als Bereicherung sehen, die aber die Offenheit unserer Gesellschaft, in die man kommt, ebenso erfordert wie die Offenheit derer, die zu uns kommen. Aufeinander zugehen – das wünsche ich mir noch mehr in den nächsten 60 Jahren.

In diesem Sinne sage ich noch einmal: Herzlichen Dank. Haben Sie heute hier noch eine schöne Zeit mit Comedy, Sketchen, Musik und mit vielen guten Diskussionen. Alles Gute. Und noch einmal: Herzlich willkommen.