Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Internationalen Friedenstreffens der Gemeinschaft Sant’Egidio am 7. Oktober 2021 in Rom

Heiliger Vater,
sehr geehrte Repräsentanten von Kirchen und Religionen,
sehr geehrter Herr Professor Riccardi,
Eminenzen,
Exzellenzen,
verehrte Damen und Herren,

es ist mir eine Ehre und Freude zugleich, hier in Rom, wo auch die Wurzeln der Gemeinschaft Sant’Egidio liegen, zu Ihnen zu sprechen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich an einem Friedenstreffen teilnehme. Über die Jahre hinweg bin ich immer wieder von der Friedensbotschaft von Sant’Egidio beeindruckt – einer Botschaft, die dem Mitmenschen zugewandt ist und so den Blick dafür schärft, was uns miteinander verbindet.

Ohne Respekt vor dem Andersdenken und vor Andersglaubenden können wir nicht in Vielfalt und Frieden miteinander leben. Durch Offenheit füreinander und im Dialog miteinander gedeihen gegenseitiges Verstehen und Verständnis. Das ist relativ leicht gesagt. Und doch fällt es so schwer. Allzu viele Konflikte, Krisen und Kriege führen uns das immer wieder schmerzhaft vor Augen. Sie lassen uns mitunter an der Fähigkeit des Menschen zur Menschlichkeit zweifeln. Aber verzweifeln – das ist keine Lösung. Wir dürfen nicht resignieren und nicht zu sprachlosen Zuschauern werden, wenn Menschen unter Konflikten leiden. Denn nur wer Frieden sucht, kann auch Frieden finden, so langwierig und schwierig die Suche auch ist.

Für diese Suche gibt uns Papst Franziskus unter anderem mit seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ einen Leitfaden in die Hand. Darin heißt es: „Um auf dem Weg des freundschaftlichen Umgangs in der Gesellschaft und der universalen Geschwisterlichkeit voranzukommen, muss es zu einer grundlegenden, wesentlichen Erkenntnis kommen: Es muss ein Bewusstsein dafür entstehen, was ein Mensch wert ist, immer und unter allen Umständen.“ – Ja, mit einem gemeinsamen Verständnis von dem Wert und der Würde des Menschen lassen sich auch Unterschiede friedlich miteinander vereinbaren.

Ich komme aus einem Land, das als Lehre aus seiner Vergangenheit die Menschenwürde im ersten Artikel seiner Verfassung für unantastbar erklärt und jedes staatliche Handeln verpflichtet, die Menschenwürde zu schützen. Wer die Würde des Anderen achtet, der muss Trennendes nicht ignorieren. Aber er kann auch dem Anderen Verantwortungsbewusstsein und eine moralisch-ethische Haltung zugestehen. Er kann bereit sein, vom Anderen zu lernen und sich geistig, kulturell und politisch inspirieren zu lassen. Deshalb wünsche ich mir, dass wir alle im Geist der Toleranz unsere Offenheit füreinander erhalten. Diese Offenheit brauchen wir, wenn wir die Welt möglichst zum Wohle aller gestalten wollen.

Wir sollten uns daher auch nicht an Bilder gewöhnen, die uns fast täglich aus Krisenregionen erreichen. Wir müssen uns den Blick auf die Not der Menschen in Konflikten bewahren, auf ihr Recht auf ein Leben in Würde. Menschliches Leid wird durch geografische Ferne nicht relativiert. Wo auch immer – es geht um Menschen. Zumal wir alle vor einer Herausforderung stehen, die das menschliche Leben auf unserem Planeten insgesamt verändert: Vor den Folgen der Erderwärmung und dem Kampf um die Eindämmung dieses Klimawandels.

Es geht also um unser Bewusstsein als Menschen und als politisch Handelnde – um das Bewusstsein, dass wir als Weltgemeinschaft eine Schicksalsgemeinschaft sind, dass wir gemeinsam wachsam sein müssen, wenn der Frieden gefährdet ist; um das Bewusstsein, dass wir die Pflicht haben, uns zu verständigen, zusammenzuarbeiten und Kompromisse zu schließen. Dafür braucht es einen offenen und respektvollen Dialog – zwischen Regierungen genauso wie zwischen Religionen. Dafür braucht es die Erfahrung der Nichtregierungsorganisationen, die Erkenntnisse der Forschung, die Arbeit von Verbänden und Vereinigungen. Und es braucht vor allem immer wieder die Begegnung, den Austausch zwischen Bürgerinnen und Bürgern verschiedener Nationen, Religionen und politischer Systeme.

Friedensarbeit hat so viele Facetten. So viele Menschen engagieren sich für den Frieden. Nicht immer ist ihre Arbeit von Erfolg gekrönt. Aber glauben wir tief in uns immer daran: Es ist möglich, Frieden zu schaffen, auch wenn es oft schmerzlich lange dauert. Jeder und jede Einzelne kann – im Kleinen wie im Großen – dazu beitragen. Jedes Friedenstreffen ist ein wunderbarer Anlass, sich in diesem Sinne selbst zu vergewissern.

Möge dieser Geist der Gemeinschaft und des Friedens, der hier heute in Rom zu spüren ist, auch weit über Rom und weit über den Tag hinaus hell und deutlich erstrahlen.

Herzlichen Dank.