Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Verleihung des Walther-Rathenau-Preises am 5. November 2021 in Berlin

Sehr geehrter Herr von Rohr,
sehr geehrter Herr Jung,
Herr Berkel ‑ schönen Dank für die Lesung ‑,
sehr geehrter Herr Professor Clark ‑ ich habe gerade zu ihm gesagt: Es ist speziell, wenn man hören muss, wie man in die Geschichte eingestellt wird ‑,
sehr geehrte Gäste,
meine Damen und Herren,

viermal habe ich bislang an der Verleihung des Walther-Rathenau-Preises teilgenommen, jedes Mal als Laudatorin. Es ist daher für mich etwas ungewohnt, diesmal gleichsam auf der anderen Seite zu stehen und den Preis mit einer Laudatio entgegenzunehmen, noch dazu eingeführt mit der beeindruckenden Lesung von Ihnen, lieber Herr Berkel. Ich danke Ihnen ‑ ich bin sicher, in Ihrer aller Namen ‑ für dieses Geschenk, für diese Lesung. Danke.

Sehr berührend ist es für mich auch, dass Sie, lieber Herr Professor Clark, sich die Zeit genommen haben, die Laudatio zu halten; und zwar allen Widrigkeiten zum Trotz, nachdem es zuvor wegen Corona mehrfach zu Terminverschiebungen kommen musste. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Worte ‑ ich möchte sie vielleicht noch einmal nachlesen, weil ich nicht weiß, ob ich alles erfasst habe ‑, wie auch für den Preis selbst, den das Walther Rathenau Institut für außenpolitische Leistungen verleiht und der natürlich auch von mir dankbar entgegengenommen wird.

Ich empfinde die Verleihung dieses Preises als große Ehre, ganz besonders vor dem Hintergrund des großen politischen Vermächtnisses des Namensgebers. Walther Rathenau verstand die Welt inmitten eines nationalistischen Zeitalters in internationalen Zusammenhängen. Er machte das, was wir heute als Globalisierung bezeichnen, bereits vor hundert Jahren zum Kern seines politischen Denkens. So konstatierte er 1918: „Niemals waren die Völker einander so nahe, niemals haben sie der Wechselwirkung so sehr bedurft, einander so viel besucht und so gut gekannt.“ Wir erleben, wie zeitlos aktuell, wie wahr dieser Gedanke Rathenaus auch heute ist - in einer Zeit also, in der unsere Welt noch sehr viel stärker vernetzt und globalisiert ist als vor 100 Jahren.

Damals litt die Welt übrigens ebenfalls unter den Folgen einer Pandemie, der Spanischen Grippe. Heute erleben wir mit der Coronaviruspandemie, wie sehr wir bei der Überwindung dieser Pandemie aufeinander angewiesen sind und voneinander abhängen. Denn es nutzt uns ja nur sehr begrenzt, wenn zwar in unserem Teil der Welt viele Menschen geimpft sind ‑ leider noch nicht genug, obwohl bei uns jetzt so viel Impfstoff zur Verfügung steht ‑, sich aber in anderen Teilen das Virus umso rasanter verbreitet, weil dort keine Impfstoffe in ausreichenden Mengen vorhanden sind, das Virus deshalb mutieren kann und neue Varianten auf uns alle zurückschlagen können.

Das ist ein nicht akzeptabler Zustand. Deshalb hat sich Deutschland von Beginn an für den weltweiten Zugang zu Impfstoffen über ein wichtiges Instrument der internationalen Zusammenarbeit eingesetzt: über den globalen Impfstoffverteilungsmechanismus COVAX. Wir tun das, weil es unser Ziel ist und bleibt, mit allen Ländern zusammen daran zu arbeiten, das Virus einzudämmen und die Menschen weltweit davor zu schützen.

Der von Walther Rathenau 1918 beschriebene Gedanke der Wechselwirkung trifft selbstverständlich auch auf viele weitere globale Fragen zu, die wir heute zu meistern haben. Denken wir allein an die Auswirkungen des Klimawandels sowohl in Form von Migrationsbewegungen als auch in unserem eigenen Leben. Wir haben in diesem Sommer in Deutschland erlebt, wie tödlich, wie verheerend Extremwettereignisse sein können. Wir haben erlebt, mit welch hohen finanziellen Kosten solche Ereignisse und ihre Folgen verbunden sind. Die Rechnung ist am Ende sehr eindeutig: Nichts ist im Ergebnis teurer, in umfassendem Sinne, als bei der Bekämpfung des Klimawandels zu wenig zu tun. Und umgekehrt gilt: Wenn sich die ganze Welt an der Bekämpfung des Klimawandels beteiligt, dann können wir es immer noch schaffen, seine gravierenden Folgen für alle zu verhindern. In Glasgow wird ja in diesen Tagen daran gearbeitet.

Historiker wie Sie, Herr Professor Clark, können wunderbar nachzeichnen, wie jede Generation ihre Herausforderungen zu bewältigen hatte und hat. Über meine Kanzlerschaft heißt es ja, dass sie ganz besonders von der Bewältigung von Krisen geprägt gewesen sei: der Weltfinanzkrise 2008, der anschließenden Staatsschuldenkrise in der Eurozone, von den sicherheitspolitischen Spannungen mit Russland im Zusammenhang mit der Annexion der Krim 2014, der Migrationsbewegung 2015/16, dem sich immer weiter verschärfenden Klimawandel, der Coronaviruspandemie.

Es wird spannend sein zu sehen, inwiefern - also unter welchen Vorzeichen und Rahmenbedingungen - sich in den nächsten Jahren das Krisenhafte fortsetzen wird. Eine Prognose ist, so denke ich, jedoch schon heute nicht zu gewagt: nämlich die, dass auch in Zukunft alle großen Herausforderungen nicht durch einen allein nationalen Politikansatz zu bewältigen sind, sondern nur gemeinsam.

Was ist die Grundlage dafür? Auch dazu hat sich Walther Rathenau vor mehr als hundert Jahren wegweisend geäußert. In seinem Werk „Physiologie der Geschäfte“ hielt er seine Maximen politischen und wirtschaftlichen Handelns folgendermaßen fest: „Denke dich beständig an die Stelle deines Gegenübers. Proponiere, was du selbst in seiner Lage annehmen würdest, und erwäge bei allem, was man dir sagt, die Interessen, die dahinterstecken. Denke nicht nur für dich, sondern auch für den anderen.“

Diese Maximen sind wichtiger denn je. Denn die Fähigkeit, die Welt auch mit den Augen des anderen zu sehen, ist für mich der wesentliche Kern des europäischen Politikansatzes. Diese Fähigkeit ermöglicht Toleranz in Vielfalt. Und es ist diese Toleranz, die ‑ so habe ich es vor etlichen Jahren einmal gesagt ‑ die Seele Europas ausmacht. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir die globalen Herausforderungen nicht einmal im Ansatz bewältigen können, wenn wir nicht versuchen wollten, die Menschen in anderen Ländern und in anderen Teilen der Welt, ihre Nöte und ihre Interessen, zu verstehen. Wir müssen ihre Sicht der Welt nicht teilen, aber wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen.

Diese Haltung, die Rathenau so treffend formulierte, ist und bleibt aus meiner Sicht die Grundlage jeglichen politischen und gesellschaftlichen Dialogs und damit auch der Bereitschaft und der Fähigkeit zum Kompromiss. Der Kompromiss ist ein Grundpfeiler von Freiheit und Demokratie. Er steht für die Einsicht in die Notwendigkeit, eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure mit unterschiedlichen Wünschen, Interessen und Vorstellungen zusammenzuführen, um Lösungen zu finden, deren Vorteile die Nachteile überwiegen und die uns deshalb weiterbringen.

Doch machen wir uns nichts vor; zu oft wird ein solches Plädoyer für den Kompromiss als Schwäche oder Nachgiebigkeit ausgelegt. Die Geringschätzung des Kompromisses halte ich nicht nur für schlicht falsch, sondern sogar für fahrlässig und gefährlich. Denn wenn uns die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Kompromiss abhandenkommen, national wie europäisch und international, weil jeder auf den eigenen Positionen beharrt, gelegentlich sogar die Gegenseite persönlich herabwürdigt und das sogar noch als Erfolg betrachtet, dann geraten unsere offenen, unsere liberalen Gesellschaften unter Druck. Dann gerät die Demokratie unter Druck. Wenn dann noch statt der Anerkennung objektiver Fakten eine gefühlte Wahrnehmung der Wirklichkeit dominant wird, dann vergessen wir wesentliche Errungenschaften der Aufklärung, die für die Entwicklung und den Erfolg der europäischen Aussöhnung und der internationalen Verständigung prägend gewesen sind.

Deshalb müssen wir alles daransetzen, dass sich die Stärke des Rechts, die Stärke der vereinbarten Regeln des Völkerrechts, gegen das vermeintliche Recht des Stärkeren durchsetzen kann. Setzen sich dagegen Akteure über diese Regeln hinweg, wird Vertrauen zerstört und das Recht des Stärkeren alleiniger Maßstab.

Genau deshalb haben zum Beispiel die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Unterstützung Russlands für die Separatisten im Konflikt in der Ostukraine seit 2014 unsere europäische Ordnung tief erschüttert. Das hat Unsicherheit nach Europa zurückgebracht. Viele unserer östlichen Nachbarn empfinden diese Unsicherheit noch stärker und unmittelbarer als wir. Deshalb müssen wir darauf wie auch auf destabilisierende Aktionen Russlands im Westen und Attacken neuen Typs etwa im Cyberbereich Antworten finden. Dabei gilt heute wie zu Zeiten Walther Rathenaus: Neben Standfestigkeit und Entschlossenheit brauchen wir im Umgang mit Russland auch weiterhin den Dialog. Das eine schließt das andere nicht aus. Ich sage sogar: Ganz im Gegenteil.

Daher halten wir zusammen mit Frankreich daran fest, mit den Minsker Vereinbarungen und durch Deutschlands Einsatz im Rahmen des Normandie-Formats für den Frieden in der Ostukraine zu arbeiten. Wir halten weiterhin daran fest, uns dafür zusätzlich mit unseren Partnern in der Europäischen Union, mit den Vereinigten Staaten von Amerika und innerhalb der G7 abzustimmen.

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland war immer ein besonderes. Erinnern wir an dieser Stelle zum Beispiel daran, dass Walther Rathenau am 16. April 1922 den Vertrag von Rapallo unterzeichnete. Er sollte die Beziehungen zwischen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik und dem Deutschen Reich normalisieren und so die Verhandlungsposition gegenüber den Westmächten stärken. Diese Vertragsunterzeichnung war damals ein durchaus umstrittener Schritt. Er war Teil der langfristigen Strategie Rathenaus, Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg wieder in die internationale Gemeinschaft zurückzuführen.

Doch wir wissen, wie diese Anstrengungen enden sollten. Die schrecklichsten Jahre standen Europa und der Welt zu der Zeit noch bevor: mit dem von Deutschland begangenen Zivilisationsbruch der Shoa und dem von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg. Erst danach sollte es in Europa möglich werden, einen Weg für Frieden und Freiheit einzuschlagen. Mit der Idee der europäischen Einigung haben wir in der Europäischen Union den Nationalismus aufgegeben und uns für Kooperation entschieden. Damit konnte in Europa das erfolgreichste Friedensprojekt der Welt entstehen. Wir dürfen niemals vergessen, dass diese europäische Einigungsidee keine Selbstverständlichkeit ist. 64 Jahre sind seit Verabschiedung der Römischen Verträge vergangen. 64 Jahre - das ist ein Wimpernschlag in der Geschichte und muss uns mahnen, stets aufs Neue für die europäische Idee von Freiheit und Frieden einzustehen. So, nur so, können wir die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen: Wohlstand für alle, Klimaschutz, Digitalisierung, Flucht und Migration.

Als im Jahr 2013 der damalige Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge und heutige UN-Generalsekretär, Antonio Guterres, den Walther-Rathenau-Preis entgegennahm, sprach der frühere Außenminister Guido Westerwelle in seiner Laudatio angesichts von seinerzeit weltweilt 43 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen von einem ‑ ich zitiere ‑ wichtigen politischen Signal. Seither sind acht Jahre vergangenen - acht Jahre, in denen sich die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen weltweit fast verdoppelt hat. Flucht und Migration sind heute mehr denn je drängende Herausforderungen. Niemand ‑ das sollten wir nie vergessen ‑ verlässt seine Heimat leichtfertig; auch diejenigen nicht, die dies wegen wirtschaftlicher oder sozialer Perspektivlosigkeit tun.

Deshalb müssen wir an den Ursachen ansetzen, die dazu führen, dass Menschen keinen anderen Weg sehen, als ihre Heimat zu verlassen. Wir müssen außerdem illegale Migration unterbinden und legale Migration ermöglichen. Gelingen kann das alles nur gemeinsam. Deshalb war es wichtig, dass die Staatengemeinschaft dies im September 2016 in der New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migranten deutlich ausgesprochen hat. In ihr heißt es: „Wir erkennen unsere gemeinsame Verantwortung an, mit Menschlichkeit, Sensibilität und Einfühlsamkeit mit großen Flüchtlings- und Migrantenströmen umzugehen.“ Auf der Basis dieser New Yorker Erklärung sind zwei globale Pakte entwickelt worden, mit denen wir die Herausforderung von Flucht und Migration in geteilter Verantwortung erfolgreich bewältigen können.

Ein Beispiel für eine solche geteilte Verantwortung ist die wenige Monate vor der New Yorker Erklärung vereinbarte EU-Türkei-Erklärung, die ‑ viel kritisiert ‑ immerhin bewirkt hat, dass Schleusern ihr skrupelloses Handwerk durchkreuzt wurde und über drei Millionen syrische Flüchtlinge Schutz und Perspektiven in der Türkei finden konnten. Ein weiteres Beispiel ist der Sahel, in dem die Bundesregierung gemeinsam mit anderen Partnern einen vernetzten Ansatz umsetzt, der sicherheits-, außen- und entwicklungspolitische Fragen zusammendenkt.

Wir wirken den Auslösern von Flucht und Migration entgegen, indem wir Arbeits- und Ausbildungsplätze schaffen, gute Regierungsführung fördern und lokale kleine und mittlere Unternehmen unterstützen. Wir helfen den Klimawandel und seine Folgen durch den Ausbau erneuerbarer Energien, die Förderung einer klimaresilienten Landwirtschaft und sozialer Sicherungssysteme sowie die Unterstützung bei Klimaanpassungsmaßnahmen einzudämmen.

Mit diesem Ansatz haben wir auch den „Compact with Africa“ während unserer G20-Präsidentschaft angestoßen - eine Initiative, die den Schritt von einem asymmetrischen Geber-Nehmer-Verhältnis hin zu einer wirtschaftlichen Partnerschaft erleichtern soll; einer Partnerschaft, die diesen Namen verdient, weil Privatinvestitionen und Finanzierungsmöglichkeiten für lokale Unternehmen in afrikanischen Ländern gestärkt werden.

Es wird jedoch nicht ausreichen, allein die wirtschaftliche und soziale Lage in den Herkunftsstaaten zu verbessern. Denn oft sind es bewaffnete Konflikte, die Menschen zur Flucht veranlassen, um ihr nacktes Leben zu retten.

In Syrien folgte auf den Arabischen Frühling 2011 ein blutiger Bürgerkrieg - einer der längsten und furchtbarsten Konflikte weltweit. Dieser Krieg findet seit über zehn Jahren direkt vor unserer Haustür statt. Wir müssen allen Rückschlägen zum Trotz weiter um eine politische Lösung ringen und uns beispielsweise dafür einsetzen, dass humanitäre Hilfe bei den notleidenden Menschen ankommt. Hierzu sind wir mit Russland und der Türkei im Gespräch geblieben - zuletzt mit dem Ergebnis, dass humanitäre Hilfe auch weiterhin grenzüberschreitend geleistet werden kann.

In Libyen wiederum haben wir gesehen, dass der Sturz eines Diktators noch keinen gesellschaftlichen Frieden bedeutet. Mittlerweile gibt es ‑ auch dank der Vereinten Nationen ‑ wenigstens ein Waffenstillstandsabkommen. Alle Konfliktparteien sitzen an einem Tisch. Die Berliner Libyen-Konferenz vom Januar 2019 hat hierfür eine wichtige Grundlage gelegt. In wenigen Tagen werden wir in Paris erneut zum Thema Libyen beraten. Ein langer Weg bleibt dennoch zu gehen ‑ für die Libyer und den demokratischen Prozess in ihrem Land.

Wie schwierig gerade solche Bemühungen sind, hat in jüngster Zeit wenig so schmerzhaft vor Augen geführt wie die Entwicklung in Afghanistan. Was 2001 als militärischer Einsatz gegen Al-Qaida begann, sollte dabei nicht stehen bleiben. Das war das Ziel der Petersberger Afghanistan-Konferenz Anfang 2002. Das war aller Ehren wert. Seither wurden durchaus auch Fortschritte für Demokratie und Teilhabe erreicht, aber sie waren nicht nachhaltig. Das ist die nüchterne Erkenntnis nach 20 Jahren Einsatz in diesem so geschundenen Land.

Dieser Erkenntnis müssen wir uns stellen, so bitter sie auch ist. Bitter ist sie vor allem für die Millionen von Menschen in Afghanistan, die sich für eine freie Gesellschaft, für Bildung und die Rechte von Frauen und Mädchen in ihrem Land eingesetzt haben. Es scheint so vieles, wenn nicht alles umsonst zu sein. Das darf jedoch nicht dazu führen, dass wir das Land jetzt, nach dem Abzug der Truppen, vergessen. Denn jetzt ‑ angesichts des bevorstehenden Winters ‑ kommt es darauf an, wenigstens zu verhindern, dass das Land tief in Hunger, Kälte und Armut versinkt.

Meine Damen und Herren, der englische Dichter John Donne schrieb im 17. Jahrhundert: „Niemand ist eine Insel, in sich ganz; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Festlandes.“

Wir wissen: Staaten können Inseln sein - im geografischen Sinne, wie zum Beispiel das Vereinigte Königreich. Doch wir wissen auch, dass es sich heutzutage kein Land leisten kann, sich komplett von Entwicklungen abzukoppeln, die sich in seiner Nachbarschaft oder in anderen Regionen zutragen, wenn es im weltweiten Wettbewerb der Werte und Interessen bestehen will. Das Coronavirus, der Klimawandel, die Digitalisierung, Migrationsbewegungen ‑ all diese Herausforderungen machen nicht vor Grenzen halt, sondern führen uns vor Augen, dass wir und wie sehr wir Teil einer Weltgemeinschaft sind.

Es ist Walther Rathenaus Verdienst, sowohl die Wechselwirkungen als auch die Chancen einer auf Ausgleich und Verständigung bedachten Außenpolitik früher als viele andere erkannt zu haben. Zugleich ist es die große Tragik dieses Mannes, dass er für diese Haltung angefeindet, bedroht und schließlich am 24. Juni 1922 in Berlin ermordet wurde. Im nächsten Jahr wird sich also seine Ermordung zum 100. Mal jähren. Eine unheilvolle Mischung aus Antisemitismus und dem Setzen auf einen gewaltsamen Umsturz war für seine Mörder handlungsleitend. Diese unheilvolle Mischung sollte Vorbote der ein gutes Jahrzehnt folgenden Schrecken während des Nationalsozialismus sein.

Die Ermordung Walther Rathenaus muss uns allen stete Mahnung sein. Wir dürfen niemals darin nachlassen, uns für Frieden und Verständigung einzusetzen. Wir dürfen niemals darin nachlassen, uns für die Überwindung von Hass, Gewalt, Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus einzusetzen. Diesen Zielen fühle ich mich auch in Zukunft verpflichtet. Dafür sehe die heutige Auszeichnung als große Ehre und Ansporn an.

Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen für die Zukunft alles erdenklich Gute.