Rede von Bundeskanzler Scholz zum Festakt 75 Jahre Deutscher Bauernverband am 21. September 2023

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Sehr geehrter Herr Präsident Rukwied,
liebe Bäuerinnen und Bauern,
meine Damen und Herren,

75 Jahre Deutscher Bauernverband, das sind auch 75 Jahre deutscher Geschichte. 1948, im Jahr Ihrer Gründung, litten die Bürgerinnen und Bürger unter der Ernährungsnot der Nachkriegszeit. Nahrung war knapp. Lebensmittel gab es vorwiegend auf Lebensmittelmarken und Bezugsscheine. Im Juni des Jahres trat in den westlichen Besatzungszonen die Währungsreform in Kraft. Die Deutsche Mark ersetzte Reichsmark und Rentenmark. Wenige Tage später begann die Berlin-Blockade. Fast ein Jahr lang wurde die Bevölkerung von Westberlin per Luftbrücke mit Nahrungsmitteln versorgt.

Genau in dieser aufgewühlten Zeit, Anfang Oktober 1948, fand in München die Gründungsversammlung des Deutschen Bauernverbandes statt. Ernährungssicherheit, das war das zentrale Thema in diesen bewegten Monaten rund um die Geburtsstunde des Deutschen Bauernverbandes. Landwirtinnen und Landwirte gaben ihr Bestes, damit die Bevölkerung satt werden konnte. Sie haben damit maßgeblich zum Wiederaufbau unseres Landes und zum Gelingen unserer sozialen Marktwirtschaft beigetragen.

Heute steht das Thema der Ernährungssicherheit erneut im Fokus von Politik und Öffentlichkeit. Tag für Tag verursacht Russlands brutaler Angriffskrieg in der Ukraine Tod, schreckliches Leid und Vernichtung. Dabei greift Russland auch gezielt die Landwirtschaft an. Getreidelager und Häfen werden mutwillig zerstört. Das ist ein eklatanter Bruch des Völkerrechts, den wir aufs Schärfste verurteilen. Russlands Krieg hat die Preise für Nahrungs- und Futtermittel weltweit steigen lassen. Noch mehr Menschen leiden dadurch an Hunger, vor allem in den ärmsten Regionen der Welt. Präsident Putin weigert sich, das Schwarzmeer-Getreideabkommen zu verlängern. Damit zeigt er, dass er nicht davor zurückschreckt, Hunger als Waffe einzusetzen und damit die ganze Welt zu bedrohen. Leidtragende sind die Schwächsten der Welt und natürlich die Landwirtinnen und Landwirte in der Ukraine.

Ich habe es gestern im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gesagt und appelliere von hier aus erneut eindringlich an Präsident Putin: Machen Sie Schluss mit der Zerstörung von Getreidelagern und Hafenanlagen! Nehmen sie das Getreideabkommen wieder auf!

Gleichzeitig arbeiten wir gemeinsam mit der Europäischen Union an Alternativen, um Getreide aus der Ukraine herauszubekommen, per Schiene, per Schiff und auf dem Landweg. Es ist ein großer Erfolg, dass die Ukraine aktuell über die sogenannten Solidaritätskorridore so viel exportieren kann.

Das alles zeigt: Landwirtschaft spielt auch heute eine zentrale Rolle für uns hier in Deutschland, aber auch für die weltweite Ernährung. Vielen Bürgerinnen und Bürgern ist in den vergangenen Monaten bewusst geworden, wie groß die strategische Bedeutung der heimischen Landwirtschaft für unser Land ist. Meine Damen und Herren, liebe Bäuerinnen und Bauern, Sie sind es, die uns Tag für Tag mit hochwertigen, gesunden und bezahlbaren Nahrungsmitteln versorgen. Sie leisten zugleich einen sehr wichtigen Beitrag zur weltweiten Ernährungssicherung. Dafür herzlichen Dank im Namen aller in Deutschland!

Ich weiß, auf Sie ist Verlass, so, wie vor 75 Jahren auf die Landwirtinnen und Landwirte Verlass war. Vergangen ist seitdem ein Dreivierteljahrhundert harter Arbeit, harter Arbeit, wie sie sich die Nichtlandwirte oft kaum vorstellen können, ein Dreivierteljahrhundert, in dem Landwirtinnen und Landwirte Tag für Tag in aller Frühe aufgestanden sind, bei Wind und Wetter, in dem sie an Urlaub oder auch nur an Wochenende oft nicht denken konnten, in dem sie Verantwortung für ihren Hof, für die Felder und ihre Tiere trugen und in dem sie gewaltige Umbrüche gemeistert haben. Der Film und auch Ihre Rede haben das ein bisschen untermalt.

Denken Sie nur an die Vergemeinschaftung der Agrarpolitik auf europäischer Ebene. Mit ihr nahm die Landwirtschaft eine Vorreiterrolle in der europäischen Integration ein. Oder denken Sie an die deutsche Einheit, die teilweise völlig neue Strukturen und Betriebsformen in Deutschland insgesamt allgemein gemacht hat. Dem Deutschen Bauernverband ist es gelungen, die ostdeutschen Landesverbände zu integrieren und als gemeinsame starke Stimme für die gesamtdeutsche Landwirtschaft zu agieren. Auch dafür gebührt Ihnen Dank.

Insgesamt hat kaum ein Wirtschaftszweig in den vergangenen 75 Jahren einen derart rasanten Wandel erlebt wie die deutsche Landwirtschaft. Wir reden also über 75 Jahre, in denen sich die Landwirte fortlaufend auf neue Umweltbedingungen und veränderte gesellschaftliche Anforderungen einstellen mussten. Wir reden über 75 Jahre, in denen sie die Landwirtschaft mit enormer Innovationskraft modernisiert haben. Wir reden über 75 Jahre, in denen sie die Kulturräume und das Zusammenleben auf dem Land geprägt und gleichzeitig die Veränderungen mitgestaltet haben.

Einen besonders erhellenden Einblick in das schiere Ausmaß dieser Umbrüche gewinnt, wer das Buch „Ein Hof und elf Geschwister“ zur Hand nimmt. Darin beschreibt der Historiker Ewald Frie am Beispiel seines elterlichen Hofes im Münsterland sehr anschaulich die Veränderungen, die sich in der Landwirtschaft von Generation zu Generation vollzogen haben. Kontinuität und Wandel auf dem Land, hier ist beides mit Händen zu greifen. Darum bin ich sehr froh darüber, dass gerade ein Buch zu diesem Thema mit dem diesjährigen Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet worden ist. Ich finde es auch ermutigend, dass gerade dieses Buch zugleich auf ein riesiges öffentliches Interesse gestoßen ist. Fries Bestseller ist erst im Februar dieses Jahres erschienen und wird bereits in der 12. Auflage gedruckt. Das schaffen nicht viele Bücher.

Das bestätigt aber auch meinen Eindruck: Das Interesse an Landwirtschaft und ländlichem Raum wächst wieder in unserer Gesellschaft, und das ist gut so. Denn mit ihrer Leistung in den vergangenen Jahrzehnten haben sich die deutschen Landwirtinnen und Landwirte jeden Respekt und, ja, auch Hochachtung verdient.

Ich will zu Ihrem Jubiläum nicht nur über die Vergangenheit reden. Ich habe mir diesen Abstecher aber erlaubt, weil er mich zuversichtlich stimmt für die Zukunft. Aber auch heute erlebt die Landwirtschaft tiefgreifende Umbrüche. Sie haben davon gesprochen. Während wir vor 75 Jahren allein die Ernährungssicherung im Vordergrund betrachtet haben, kommen heute Herausforderungen auf vielen weiteren Gebieten hinzu. Die Landwirtschaft muss sich mit der Klimakrise auseinandersetzen, sich an den Klimawandel anpassen und zum Klimaschutz beitragen. Das sind große Herausforderungen. Sie muss sich mit dem Rückgang der Biodiversität auseinandersetzen, der auch für die Landwirtschaft eine Bedrohung ist. Sie muss den gestiegenen Erwartungen von Verbraucherinnen und Verbrauchern an Umwelt- und Tierschutz gerecht werden. Bei allem braucht sie ein solides ökonomisches Fundament. Denn wir alle gemeinsam in Deutschland sind auf eine starke Landwirtschaft angewiesen. Landwirtschaft bedeutet eben auch, dass es ein Geschäftsmodell ist, das funktionieren muss. ‑ Ja, genau, da wollte einer klatschen.

Sie wissen es aus eigener Erfahrung und natürlich aus Ihrer täglichen Arbeit: Die Anforderungen sind größer geworden, auch die Spannungsfelder, und es ist ziemlich kompliziert, mit all dem zurechtzukommen. ‑ Einfache Lösungen gibt es sowieso nicht. Ich bin aber davon überzeugt, dass wir es gemeinsam schaffen können. Die Bäuerinnen und Bauern, die Landwirtinnen und Landwirte, die Politik, die Verbraucherinnen und Verbraucher, wir alle müssen gemeinsam versuchen, unsere Zukunft zu gewinnen.

Deshalb finde ich es gut, dass der nächste Programmpunkt hier „Zukunft Landwirtschaft“ heißt. Er setzt seinen Schwerpunkt auf Chancen und Möglichkeiten dessen, was Sie vorhaben. Natürlich freue ich mich besonders darüber, dass dabei auch die Perspektiven junger Landwirtinnen und Landwirte besprochen werden. Denn am Ende sind wir alle auf sie angewiesen. Sie müssen ja weitermachen und dafür sorgen, dass das alles auch klappt, nicht nur mit weiteren 75 Jahren Verband, sondern auch mit der Landwirtschaft, und zwar ‑ ehrlicherweise muss man das sagen ‑ in den nächsten Jahrhunderten.

Zupackende, mutige und kreative Bürgerinnen und Bürger wie Sie sind es, die unser Land braucht. Deshalb bin auch froh darüber, dass wir gemeinsam versuchen, diese zukunftsfähige nachhaltige Landwirtschaft zu entwickeln. Über die Zukunftskommission Landwirtschaft wurde schon gesprochen. Sie hat sich große Verdienste erworben. Es geht darum, dass alle versuchen, gemeinsam Perspektiven zu entwickeln. Ich denke, dass man sagen kann, dass es schon einen Konsens zumindest über die Entwicklungspfade gibt, die wir gemeinsam beschreiten müssen, wenn es um Nachhaltigkeit in ökologischer Hinsicht und um ökonomische Tragfähigkeit geht. Das ist kein Gegensatz, sondern eine gemeinsam zu bewältigende Aufgabe. Ich denke, das geht wirklich. Es besteht Konsens, jedenfalls in meinen Augen, dass das keine Sache ist, die man bei irgendwem abladen kann, zum Beispiel bei den Landwirten, sondern dass es eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft ist. Wir müssen uns Ihre Sorgen und Ihre Gedanken auch selbst machen. Denn das Interesse an einer zukunftsfähigen Landwirtschaft haben wir aus jeder Perspektive in diesem Land, wenn es um unsere Volkswirtschaft geht, wenn es um den Landschaftsschutz geht, um die Biodiversität, die Umwelt, aber eben auch die Nahrungsmittelsicherheit. Das wird große Herausforderungen für uns alle mit sich bringen, denen wir uns aber stellen können.

Ich jedenfalls bin davon überzeugt, dass Sie am allerbesten wissen, dass da wirklich Herausforderungen bestehen. Hitzewellen merken Sie genauso wie alle anderen, aber auch unmittelbar am ökonomischen Ertrag. Dürreperioden sind für landwirtschaftliche Betriebe unmittelbar spürbar. Unberechenbarer Starkregen kann die Arbeit eines ganzen Jahres infrage stellen und löst Schaden auf den Feldern und in den Wäldern aus.

Deshalb glaube ich, dass wir das gemeinsam anpacken und versuchen müssen, auch dort, wo die Debatten in der Vergangenheit vielleicht ein bisschen gegeneinander gerichtet waren, das Gegenteil zu bewirken. Ich bin dem Verband und Ihnen, aber auch allen anderen hier sehr dankbar dafür, dass das mit großem Erfolg gelungen ist und dass wir uns nicht vor der Aufgabe drücken, die wir gemeinsam haben.

Dazu gehört auch, sich neue Dinge auszudenken. Insofern unterstreiche ich Ihren Appell, dass es auch darum geht, einmal ein bisschen machen zu können, austesten zu können, was es an neuen Möglichkeiten gibt. Dabei wollen wir Sie gern unterstützen. Es gibt viele Dinge, die man diskutieren kann, etwa wenn es um die Speicherung von Kohlendioxid im Boden oder die Emissionsminderung in der Nutztierhaltung geht. Man muss einen pragmatischen Weg finden, wie das geht. Das kann man sich nicht am grünen Tisch ausdenken. Es geht um innovative Techniken und natürlich immer auch um die Frage: Kann man die erneuerbaren Energien nicht nur nutzen, sondern auch als ein zusätzliches Ertragsfeld für die Landwirtschaft selbst einsetzen? ‑ Alles das ist wichtig, wenn wir über die Zukunft reden, die wir gemeinsam haben.

Ich bin davon überzeugt, dass wir die Handlungsbedarfe bewältigen können und bin dankbar dafür, dass wir als Bundesregierung, als ‑ ich denke, das kann ich auch sagen ‑ Deutscher Bundestag und als diejenigen, die in der Politik in Bund, Ländern und Gemeinden Verantwortung tragen, mit diesem Verband einen guten Partner haben.

Manches ist in der Vergangenheit schon gelungen. Das ist hier schon ausführlich gesagt worden. Deshalb werde ich das nicht noch einmal aufzählen. Aber ich will gern unterstreichen, dass es genau so ist.

Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher setzen auf Sie. Denn sie wollen nicht nur satt werden ‑ das war ein großes Thema in der Vergangenheit ‑, sondern sie wollen, dass es auch mit der Qualität der Produkte klappt und dass sie das bei ihrer Kaufentscheidung berücksichtigen können. Ich denke, dass man mit dem Vertrauen in die Landwirtschaft, das existiert und das wir pflegen und ausbauen müssen, auch die Grundlage dafür schaffen kann, dass genau das gelingt. Es ist etwas, an dem wir gemeinsam arbeiten müssen. Vertrauen entsteht nicht dadurch, dass man eine Werbekampagne schaltet oder die besten PR-Berater hat, sondern es entsteht dadurch, dass man es jeden Tag auf dem Feld und in der eigenen Arbeit begründet.

Ich jedenfalls bin deshalb davon überzeugt, dass wir alle zusammen etwas für eine zukunftsfähige Landwirtschaft beitragen können, die Bürgerinnen und Bürger, die politisch Verantwortlichen und eben auch Sie.

75 Jahre Deutscher Bauernverband, das heißt 75 Jahre Stabilität im Wandel, 75 Jahre, in denen der Deutsche Bauernverband für die Politik immer ein verlässlicher Ansprechpartner gewesen ist, 75 Jahre mit unzähligen beeindruckenden Lebenswerken und 75 Jahre, die jedenfalls mich für die Zukunft zuversichtlich stimmen.

Heute ist Ihre Feier. Seien Sie stolz auf das, was Sie geleistet haben und jeden Tag weiterhin leisten! Auf Sie kommt es an. Auf Ihre tägliche Arbeit auf den Feldern und den Höfen unseres Landes sind Millionen von Bürgerinnen und Bürgern angewiesen. Wir schulden Ihnen dafür Respekt. Herzlichen Dank also, herzlichen Glückwunsch und ein schönes Fest!