Sehr geehrter Herr Professor Snower,
meine Damen und Herren,
schön, heute wieder hier bei Ihnen zu sein. „Moving beyond the crisis“ lautet das Thema in diesem Jahr ‑ Krise im Singular.
Angesichts der Vielzahl an Konflikten und bewaffneten Auseinandersetzungen, der Vielzahl globaler Herausforderungen und Krisen hätten bestimmt nicht wenige für den Titel eher den Plural gewählt. Und doch finde ich den Titel mit der Krise im Singular gut gewählt. Denn in ihm schwingt ein Gedanke mit, der aus meiner Sicht ganz zentral ist.
Es gibt keine isolierten Krisen. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat weltweit für steigende Preise für Energie und Nahrungsmittel gesorgt. Die Pandemie hat rund um den Globus große Löcher in die Staatshaushalte gerissen ‑ mit Folgen bis heute, besonders in den ärmsten Ländern. Und der Klimawandel ist per se eine globale Herausforderung ‑ mit Auswirkungen auf Wirtschaft, Finanzen, Gesundheit, Sicherheit und Politik.
Der Historiker Adam Tooze hat diese miteinander verwobenen und voneinander abhängigen Herausforderungen eine Polykrise genannt.
Was ich mit diesem Begriff verbinde, ist zweierlei. Zum einen: Es reicht nicht, jede dieser Entwicklungen ‑ Kriege, Energiekrise, Inflation, Schulden, Klimawandel, Migration ‑ isoliert zu betrachten. Und fast noch wichtiger: Es reicht nicht, wenn einzelne Länder oder Weltregionen sich allein um das ihnen geografisch oder politisch naheliegendste Problem kümmern. Mit den begrenzten Mitteln, über die selbst die einflussreichsten Länder verfügen, lassen sich allenfalls die lokalen Symptome einer globalen Polykrise lindern.
Die Polykrise selbst aber ist für uns „too big to ignore“. Sie in den Griff zu kriegen ist möglich. Aber dafür ist die Frage „Wo liegen die Interessen Afrikas, Lateinamerikas oder Asiens?“ genauso relevant wie die Frage: „Wo stehen die USA, Europa, China oder Russland bei Thema A, B oder C?“
Dieser notwendigen Globalisierung unseres Denkens und unserer Lösungssuche hat sich der Global Solutions Summit von Beginn an verschrieben.
Schönen Dank dafür!
Der Begriff der Polykrise ist übrigens keine Chiffre für resigniertes Nichtstun, nach dem Motto: Wenn alles irgendwie mit allem zusammenhängt, wo soll man da überhaupt ansetzen?
Ich möchte über drei Felder sprechen, die einer globalen Kraftanstrengung bedürfen, bei denen wir aber auch über überlappende Interessen und existierende, realistische Lösungsansätze diskutieren müssen.
Erstens:
In einer Welt mit ‑ zur Mitte des Jahrhunderts ‑ zehn Milliarden Bewohnerinnen und Bewohnern ist Klimaneutralität kein Wunschtraum für Idealisten, sondern überlebensnotwendig für unseren Planeten und Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand. Was mich zuversichtlich macht: Unsere gemeinsamen Bemühungen zur Begrenzung des Klimawandels zeigen Erfolge. Alle Vertragsstaaten des Pariser Klimaübereinkommens haben nationale Klimaschutzpläne für dieses Jahrzehnt erarbeitet.
Gleichzeitig haben 78 Länder Langfriststrategien für Treibhausgasneutralität bis Mitte des Jahrhunderts vorgelegt. Das sendet eine klare Botschaft, auch an Investoren und Unternehmen: Die Transformation in Richtung Klimaneutralität ist unumkehrbar. Ein Zurück in die fossile Ära kann und wird es nicht geben. Das belegt auch der Konsens, den wir bei der COP in Dubai im vergangenen Jahr erreicht haben: Verdreifachung der erneuerbaren Energien, Verdoppelung der Energieeffizienzrate und Abkehr von fossilen Energieträgern.
Trotz aller geopolitischen Verwerfungen ‑ ich komme noch dazu ‑ haben die G20 dabei eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Denn beim Gipfel in Delhi ist es uns gelungen, innerhalb der G20 konkrete Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz zu vereinbaren.
Ich will hier aber auch die Probleme klar benennen: Das wohl größte besteht darin, dass die nötigen finanziellen Mittel für die Transformation der gesamten Weltwirtschaft in Richtung Klimaneutralität mobilisiert werden. Auf 125 Billionen Dollar schätzten beispielsweise Experten der Vereinten Nationen den weltweiten Investitionsbedarf, um 2050 klimaneutral zu sein. Allein diese Schätzung zeigt: Mit öffentlichen Mitteln der klassischen Industrieländer allein wird das niemals gelingen.
Um nicht missverstanden zu werden: Die Länder stehen zu ihrer Verantwortung, Gelder für die Minderung des CO2-Ausstoßes und für die Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels bereitzustellen. Aber selbst eine Vervielfachung der öffentlichen Mittel, die schlicht unrealistisch ist, brächte uns nicht ans Ziel. Um erfolgreich zu sein, muss die Klimafinanzierung weltweit viel stärker darauf ausgerichtet werden, private Investitionen zu mobilisieren. „It’s the economy, stupid“ ‑ dieser Satz gehört auch an diese Stelle.
Natürlich verbinden sich mit dem Aufbruch ins postfossile Zeitalter wirtschaftliche Chancen und lukrative Geschäftsmodelle. Man denke nur an den Aufbau eines globalen Wasserstoffmarktes oder an das Potenzial vieler Länder, Exporteure erneuerbarer Energien statt Importeure fossiler Kraftstoffe zu werden.
Am Anfang jedes Geschäftsmodells aber steht die Frage nach der Finanzierung. Dabei haben es Entwicklungs- und viele Schwellenländer besonders schwer. Deshalb müssen wir da ran. Etwa dadurch, dass wir die Entwicklungsbanken für solche Investitionen absichern, oder durch Kooperationen wie die Just Energy Transition Partnerships.
Ein Beitrag, den Deutschland leistet und der mir sehr wichtig ist, ist der Klimaclub mit seinen mittlerweile 38 Mitgliedern. Über ihn es eben schon gesprochen worden. Im Klimaclub arbeiten wir an gemeinsamen Standards für Kooperation, mehr Transparenz und mehr Konvergenz bei der Dekarbonisierung unserer Industrie. Gerade arbeiten wir beispielsweise an einer gemeinsamen Definition für grünen Stahl.
Private Investitionen hängen nicht zuletzt auch an guten Investitionsbedingungen in den jeweiligen Ländern selbst. Daran arbeiten wir unter anderem im G20 Compact with Africa. Beim Treffen im vergangenen November in Berlin haben wir mit unseren afrikanischen Partnern beispielsweise vereinbart, noch enger in Sachen Energie und grünen Wasserstoffs zusammenzuarbeiten. Als G7 flankieren wir das durch die Partnerschaft für globale Infrastruktur und Investitionen, die wir in Elmau ins Leben gerufen haben. Dadurch setzen wir Anreize für milliardenschwere privatwirtschaftliche Investitionen in die globale Infrastruktur insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern. Dieser Weg, private Investitionen mit öffentlichen Mitteln zu ermöglichen und zu hebeln, ist angesichts der Dimensionen der Energie- und Klimakrise der einzige Erfolg versprechende.
Das zweite Feld, auf das ich eingehen möchte: Wir brauchen konkrete Lösungen bei der Reform der internationalen Finanzarchitektur und der internationalen Schuldensituation.
Als Deutschland setzen wir uns deswegen nachdrücklich für eine Reform der Weltbank ein. Wir haben schon einiges erreicht. Bei der Jahrestagung im vergangenen Jahr in Marrakesch wurde eine neue Zielsetzung der Weltbank beschlossen. Armutsbekämpfung geht nun Hand in Hand mit dem Erhalt unserer Lebensgrundlagen und dem Schutz globaler öffentlicher Güter. Auch für die Weltbank gilt, was ich gerade in Sachen Klimafinanzierung gesagt habe: Wir brauchen „more bang for the buck“.
Dass wir es mit der Reform der Weltbank ernst meinen, zeigen wir auch durch unsere finanzielle Unterstützung. Als erstes Land weltweit hat Deutschland der Weltbank daher im vergangenen Jahr über 300 Millionen Euro an Hybridkapital zugesagt. Das sind Mittel, mit denen die Weltbank ihre Kreditvergabe erhöhen kann und die private Investitionen hebeln sollen, und zwar oft mit dem Faktor eins zu acht oder eins zu zehn. Seitdem haben sich bereits zehn Partner dieser Idee mit Hybridkapital und Garantien angeschlossen. So kann die Weltbank in den kommenden zehn Jahren bis zu 70 Milliarden US-Dollar an neuen Krediten vergeben.
Das ist ein Anfang, und vor allem ist das ein neuer, wesentlich klügerer Weg, als nur in den Kategorien von Kredit oder Zuschuss zu verharren. Das hilft auch einkommensschwachen Ländern.
Doppelt so viele von Ihnen als vor zehn Jahren stecken in einer Verschuldungskrise oder stehen zumindest kurz davor.
Mit dem Common Framework haben wir als G20 einen Mechanismus geschaffen, um Schulden zu restrukturieren und tragfähige Lösungen für unsere Partner zu erzielen.
Aber trotz Schuldenkrise kommen wir mit diesem Mechanismus nur langsam voran, obwohl das Interesse groß ist. Deshalb müssen wir uns fragen, was wir daran noch verbessern können. Ich denke zum Beispiel an effizientere Abwicklung sowie einheitlichere Prozesse, aber auch an eine Öffnung des Common Framework für Länder mit mittlerem Einkommen.
Klar ist für mich auch, dass sich China als einer der größten Gläubiger insgesamt stärker beteiligen muss, um die Schuldenlast der ärmsten Länder nachhaltig zu verringern. Auch darüber habe ich mit Präsident Xi vor Kurzem in Peking gesprochen.
Um nachhaltiges Wachstum in Afrika, Asien und Südamerika zu stärken, kann es aber natürlich nicht nur um Schuldenmanagement gehen. Wir müssen auch für höhere Einnahmen durch mehr Wertschöpfung vor Ort sorgen. Deutschland tritt zum Beispiel dafür ein, dass mehr Wertschöpfung in der Rohstoffverarbeitung in den Ländern erfolgen soll, in denen die Rohstoffe abgebaut oder erneuerbare Energien produziert werden. Wir haben uns auch erfolgreich dafür eingesetzt, dass dieses Prinzip im EU Critical Raw Materials Act großgeschrieben wird, der im April verabschiedet wurde. Dort steckt großes Potenzial für wirtschaftliche Kooperation mit unseren Partnern in Afrika, Asien und Südamerika und deren nachhaltige Entwicklung.
Ein ganz wichtiger Beitrag für höhere Einnahmen ist auch die Umsetzung der Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung. Nach langen Verhandlungen in der OECD haben wir uns auf ein Modell geeinigt, das von weit mehr als 100 Staaten mitgetragen wird. Das ist ein ganz wichtiger Erfolg. Aber es bleiben noch zu viele Schlupflöcher, die Ungleichheit und unfairen Wettbewerb verstärken. Da bleiben wir weiter dran. Das ist schließlich eine Frage globaler Gerechtigkeit.
Das dritte Feld, auf das ich eingehen möchte, betrifft die Frage von Krieg und Frieden.
Durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, durch den Terrorangriff der Hamas auf Israel samt seinen regionalen Auswirkungen und durch Kriege und Konflikte an anderen Schauplätzen - in Afrika und Asien - ist sie die bestimmende Frage für die internationale Zusammenarbeit unserer Zeit. Und sie hat das Potenzial, diese Zusammenarbeit nachhaltig zu erschüttern. Statt uns nun gegenseitig Doppelstandards zu unterstellen, sollten wir uns auf den einen globalen Standard besinnen, den es gibt und der uns alle schützt, und das sind die Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen. Mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine heißt das: Wir können und werden niemals akzeptieren, dass Grenzen mit Gewalt verschoben werden. Prinzipien wie die Unabhängigkeit, die Souveränität und die territoriale Integrität verteidigen wir entweder alle gemeinsam, oder wir setzen sie jeder für sich aufs Spiel. Zumal ich die globalen Auswirkungen des russischen Angriffskriegs eingangs beschrieben habe: Inflation, Energiekrise, Lebensmittelknappheit usw.
Je mehr Länder wie China, Brasilien, Indien und viele andere Russland bedeuten, dass es reicht, dass dieser Krieg enden muss, dass Russland Truppen zurückziehen muss, umso größer ist die Chance auf einen baldigen Frieden. Umso größer ist aber auch die Chance, dass diplomatische Bemühungen ‑ wie zum Beispiel von der Schweiz mit der Friedenskonferenz geplant ‑ uns einem gerechten Frieden jedenfalls ein kleines Stück näher bringen. Dass der globale Süden hier eine wichtige Rolle spielt und auch spielen muss, ist durchaus ein Spiegel einer Welt in der Polykrise, wie ich sie zu Anfang beschrieben habe. Es ist auch im Interesse unserer Partner in der G20, ein Signal für einen dauerhaften und einen gerechten Frieden für die Ukrainerinnen und Ukrainer zu senden. Denn ohne Frieden kann es keine nachhaltige Entwicklung geben.
Das Völkerrecht und die Prinzipien der Vereinten Nationen sind unser Standard, auch was den Konflikt im Nahen Osten betrifft. Das heißt zunächst, Israel hat das Recht, sich gegen den Terror der Hamas zu verteidigen. Zugleich kennt auch der Krieg und dieser Krieg Regeln. Das bedeutet, die Hamas muss alle unschuldigen Geiseln freilassen ‑ sie hat es weiterhin in der Hand, das Blutvergießen zu beenden ‑, und Israel hat die Pflicht, Zivilisten zu schützen und humanitäre Hilfe zuzulassen.
Auch Deutschland und die USA haben ihren Beitrag zur Versorgung der Bevölkerung in Gaza mit Lebensmitteln, Medikamenten und anderen Hilfsgütern geleistet und werden das weiter tun, und es muss ja noch mehr dieser Hilfe nach Gaza gelangen. Dazu brauchen wir endlich einen Waffenstillstand, der länger anhält und der zugleich sicherstellt, dass die israelischen Geiseln freigelassen werden, und wir brauchen auch endlich wieder eine Perspektive für eine dauerhafte Lösung des Konflikts, eine Lösung, die ein friedliches Miteinander zwischen Israel und einem palästinensischen Staat ermöglicht.
Meine Damen und Herren, ja, es ist so: Vielfältige, miteinander verflochtene Herausforderungen umgeben uns, und es deutet wenig darauf hin, dass sich das einfach so bald ändern wird. Unsere Pflicht ist es aber, darüber nicht in Resignation zu versinken, sondern mit offenen Augen nach vorne zu schauen. Denn auch die Lösungen umgeben uns, wenn wir global zusammenarbeiten - Regierung, Thinktanks und Zivilgesellschaft.
Dafür steht diese Veranstaltung, und dafür danke ich Ihnen allen recht herzlich. Schönen Dank.