Rede von Bundeskanzler Scholz anlässlich der Munich Security Conference am 17. Februar 2023 in München

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Sehr geehrter Herr Botschafter Heusgen,
meine Damen und Herren,

ich denke, ich spreche uns allen aus dem Herzen, wenn ich nach dieser Rede von Präsident Selensky zunächst in Richtung Kiew antworte: Lieber Wolodymyr, wir hätten dich heute sehr gern in unserer Mitte gehabt, denn die Ukraine gehört hierher, an unsere Seite, in ein freies, vereintes Europa. Aber wir verstehen, wo dein Platz ist ‑ in diesem Tagen sein muss ‑: in Kiew, im unermüdlichen Einsatz für dein Land. Dafür wünschen wir dir von hier aus München weiter viel Kraft und Zuversicht!

(auf Englisch) Ich darf die Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten hier sehr herzlich willkommen heißen. Herzlichen Dank, dass Sie heute bei uns sind – wieder einmal, kann ich hinzufügen! Es ist für uns eine Ehre, dass Sie hier sind, und zwar gemeinsam mit so vielen Kollegen aus dem amerikanischen Senat, dem Repräsentantenhaus und der amerikanischen Regierung. Ihnen allen ein herzliches Willkommen hier in München!

(auf Deutsch) Ihnen, lieber Herr Ischinger, war es immer ein Anliegen, dass hier in München nicht nur Reden gehalten werden, sondern dass miteinander geredet wird. Und ich weiß, auch Ihnen, lieber Herr Heusgen, ist das sehr wichtig. Deshalb will ich mich auf einige Thesen beschränken ‑ sozusagen als Kick-off für unsere Diskussion.

Erstens: Putins Revisionismus wird nicht siegen. Im Gegenteil: Die Ukraine ist geeinter denn je. Die Europäische Union steht geschlossen zusammen ‑ und hinter einer zukünftigen EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Die NATO wächst um zwei neue Mitglieder.

Zugleich haben tausende junge Russen Putins Krieg mit ihrem Leben bezahlen müssen. Viele weitere haben dem Land den Rücken gekehrt.

Unter großen Opfern und mit absolut beeindruckender Entschlossenheit verteidigen die Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Freiheit. Und wir unterstützen sie dabei ‑ so umfangreich und so lange wie nötig.

Allein Deutschlands Hilfe für die Ukraine belief sich im vergangenen Jahr auf über 12 Milliarden Euro. Wir haben mehr als eine Million ukrainische Flüchtlinge aufgenommen ‑ mit vollem Zugang zu unserem Arbeitsmarkt, unseren Schulen, unseren Universitäten. Wir liefern hochmoderne Waffen, Munition und andere militärische Güter ‑ mehr als jedes andere Land in Kontinentaleuropa. Das entspricht nicht nur den ‑ wohlgemerkt: berechtigten ‑ Erwartungen unserer Partner und Verbündeten. Wir übernehmen damit auch die Verantwortung, die ein Land von der Größe, Lage und Wirtschaftskraft Deutschlands in Zeiten wie diesen zu schultern hat.

Dabei haben wir mit jahrzehntelangen Grundsätzen bundesrepublikanischer Politik gebrochen ‑ zum Beispiel damit, keine Waffen in ein solches Gebiet zu liefern. Ich verstehe, wenn einige bei uns in Deutschland Sorgen haben und unsere Entscheidungen hinterfragen. Ihnen möchte ich sagen: Nicht unsere Waffenlieferungen sind es, die den Krieg verlängern. Das Gegenteil ist richtig ‑ und das ist meine zweite These ‑: Je früher Präsident Putin einsieht, dass er sein imperialistisches Ziel nicht erreicht, desto größer ist die Chance auf ein baldiges Kriegsende, auf Rückzug russischer Eroberungstruppen.

Das ist auch das Ziel der Ukraine ‑ so hat es Präsident Selensky bei unseren Treffen vergangene Woche in Paris und in Brüssel bekräftigt, und eben ja auch noch einmal. Dieses Ziel verfolgen wir in großer europäischer, transatlantischer und internationaler Einigkeit.

Dazu zählt übrigens, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Russen in der Ukraine begehen, zu dokumentieren und zu ahnden. Gut, dass die Munich Security Conference dieses Thema aufgreift, denn ohne Gerechtigkeit gibt es keinen dauerhaften Frieden.

Zugleich tragen wir Sorge dafür, dass es nicht zu einem Krieg zwischen der NATO und Russland kommt. Daher lautet meine dritte Botschaft: Die Balance zwischen bestmöglicher Unterstützung der Ukraine und der Vermeidung einer ungewollten Eskalation werden wir auch weiterhin halten. Und ich bin froh und dankbar, dass Präsident Biden und viele andere Verbündete das genauso sehen wie ich. Denn der Kurs, den wir gemeinsam eingeschlagen haben, verläuft durch unkartiertes Gelände. Zum ersten Mal in unserer Geschichte führt eine Nuklearmacht hier auf europäischem Boden einen imperialistischen Angriffskrieg. Für das, was in dieser Lage zu tun ist, gibt es keine Blaupause.

Ich meine: Wir tun gut daran, alle Konsequenzen unseres Handels sorgfältig abzuwägen und alle wichtigen Schritte eng abzustimmen unter Bündnispartnern. Denn es geht um einen Krieg in unserer Nähe, in Europa ‑ einen gefährlichen Krieg. Und bei allem Handlungsdruck, den es ohne Zweifel gibt: In dieser entscheidenden Frage gilt: Sorgfalt vor Schnellschuss, Zusammenhalt vor Solovorstellung. Und es gilt, unsere Unterstützung von Anfang an so anzulegen, dass wir sie lange durchhalten. Das war bislang unser Maßstab bei der Lieferung neuer Waffensysteme: bei den Haubitzen und Mehrfachraketenwerfern, bei den Flugabwehrwaffen, den Schützenpanzern, Patriot-Batterien und zuletzt auch bei den westlichen Kampfpanzern. Und so halten wir es auch in Zukunft.

Dazu gehört, dass alle, die solche Kampfpanzer liefern können, dies nun auch wirklich tun. Dafür werben Verteidigungsminister Pistorius, Außenministerin Baerbock und ich ‑ auch hier in München ‑ intensiv. Was Deutschland beitragen kann, um unseren Partnern diese Entscheidung zu erleichtern, das werden wir tun, etwa indem wir ukrainische Soldaten hier in Deutschland ausbilden oder bei Nachschub und Logistik unterstützen.

Übrigens: Für mich ist das ein Beispiel für die Art von Leadership, die jede und jeder von Deutschland erwarten kann und die ich unseren Freunden und Partnern ausdrücklich anbiete.

Und damit bin ich bei Botschaft Nummer vier: Deutschland bekennt sich zu seiner Verantwortung für die Sicherheit Europas und des NATO-Bündnisgebietes, ohne Wenn und Aber.

Von diesem Podium aus war in den vergangenen Jahren oft davon die Rede, dass Deutschland seiner sicherheitspolitischen Verantwortung gerecht werden muss. Ich teile diesen Anspruch nicht nur, wir lösen ihn ein: mit einer zusätzlichen Brigade zum Schutz Litauens, durch die Unterstützung Polens und der Slowakei bei der Flugabwehr und durch Air Policing, durch den Schutz kritischer Infrastruktur in Nord- und Ostsee und, indem wir die NATO-Speerspitze führen und dafür 17 000 Soldatinnen und Soldaten in Bereitschaft halten.

Um das und künftig noch mehr leisten zu können, machen wir Schluss mit der Vernachlässigung der Bundeswehr. Mit dem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr haben wir das Fundament dafür gelegt. Wir haben dafür unser Grundgesetz geändert, mit Unterstützung auch der größten Oppositionspartei im Land. Diese Mittel erlauben uns einen dauerhaften Spurwechsel beim Aufbau der Fähigkeiten unserer Bundeswehr. Natürlich steigen mit neuen Kampfflugzeugen, Hubschraubern, Schiffen und Panzern auch die Kosten für Munition und Ausstattung, für Unterhalt, Übungen, Ausbildung und Personal. Deshalb will ich hier die Aussage bekräftigen, die ich drei Tage nach Kriegsbeginn im Bundestag gemacht habe: Deutschland wird seine Verteidigungsausgaben dauerhaft auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anheben.

Um diese Mittel sinnvoll und nachhaltig zu investieren, brauchen wir eine leistungs- und wettbewerbsfähige Rüstungsindustrie in Deutschland und in ganz Europa.

Deshalb lautet meine fünfte These: In der Rüstungspolitik muss die Europäische Union strategisch an einem Strang ziehen.

Gemeinsam mit Frankreich und Spanien entwickeln wir das künftige Future Combat Air System, mit Frankreich zudem das Main Ground Combat System. Auch bei der gemeinsamen Entwicklung europäischer Fähigkeiten kommen wir voran. Dafür steht die von Deutschland initiierte European Sky Shield Initiative zur Stärkung Europas Luftverteidigung im Rahmen der NATO. Das sind Schritte hin zu einem Europa der Verteidigung und Rüstung, wie ich es letztes Jahr an der Prager Karlsuniversität skizziert habe.

Das sind zugleich Schritte hin zu einem geopolitisch handlungsfähigeren Europa, zu einem Europa, das auch ein stärkerer transatlantischer Verbündeter ist. Dazu gehört, dass wir mehr tun, um Konflikte in unserer Nachbarschaft zu lösen. Darum geht es bei dem europäischen Vorschlag für einen Grundlagenvertrag zwischen Serbien und Kosovo, den Präsident Macron und ich initiiert haben. Ich hoffe, dass Belgrad und Pristina diese historische Chance wahrnehmen, im Interesse der Stabilität des Westlichen Balkans und ganz Europas.

Weitere Schritte müssen für ein geopolitisches Europa hinzukommen. Denn in unserer digitalen, technologisierten, globalisierten Welt lässt sich Sicherheit nicht allein mit militärischer Stärke erreichen.

Darum lautet meine sechste These: Für uns Europäerinnen und Europäer und, wie ich meine, letztlich für alle demokratischen, offenen Gesellschaften wie unsere geht es darum, dass wir insgesamt resilienter werden.

Das gelingt nicht durch Deglobalisierung, nicht, indem wir der Welt den Rücken zukehren. Dies wäre ein Verrat an unseren eigenen Werten und auch wirtschaftlich ein Kurzschluss. Sondern das gelingt, indem wir einseitige, riskante Abhängigkeiten beenden und unsere politischen und wirtschaftlichen Beziehungen breiter und robuster aufstellen. Wir Deutschen wissen, wovon wir reden. Schließlich haben wir uns in Deutschland in den vergangenen zwölf Monaten von russischer Energie unabhängig gemacht. Das war ein Kraftakt.

Auch in anderen Bereichen werden wir solche kritischen Abhängigkeiten reduzieren, etwa was strategisch wichtige Rohstoffe oder Zukunftstechnologien angeht. Auch dieses Ziel gehört für mich übrigens in unsere Nationale Sicherheitsstrategie. Schon jetzt stärken wir eigene Produktionskapazitäten, zum Beispiel bei Halbleitern. Schon jetzt diversifizieren wir unsere Lieferketten und erschließen uns neue Lieferanten und Märkte im asiatisch-pazifischen Raum, in Afrika, in Mittel- und Südamerika.

Zugleich geht es immer auch darum, diesen Regionen größere politische Mitsprache zu ermöglichen, ja diese Mitsprache auch einzufordern. Denn es liegt auch in ihrem Interesse, dass grundlegende Prinzipien unserer Friedensordnung und der Charta der Vereinten Nationen nicht unter die Räder kommen. Auch deswegen bin ich übrigens im vergangenen Herbst nach Peking gereist. Bei der Verteidigung bestimmter Grundprinzipien der internationalen Ordnung sind alle gefordert, auch China. Ich bin froh, dass Präsident Xi bei dieser Gelegenheit klargestellt hat, dass er sich klar gegen jede Drohung mit Atomwaffen oder gar deren Einsatz im Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt.

Zugleich mache ich mir keine Illusionen darüber, was wir allein durch Dialog bewegen können, auch bei unseren demokratischen Partnern in Asien, Afrika und Lateinamerika. „Europe has to get out of the mindset that Europe’s problems are the world’s problems, but the world’s problems are not Europe’s problems”, so wird der indische Außenminister im diesjährigen Munich Security Report zitiert. An dem Satz ist etwas dran. Zwar wäre es nicht allein Europas Problem, wenn sich das Recht des Stärkeren in den internationalen Beziehungen durchsetzte. Aber um als Europäer oder als Nordamerikanerin in Jakarta, New Delhi, Pretoria, Santiago de Chile, Brasilia oder Singapur glaubwürdig zu sein und etwas zu erreichen, reicht es eben nicht, gemeinsame Werte zu beschwören. Dafür braucht es eine ehrliche Beschäftigung mit den Anliegen dieser Länder als Grundvoraussetzung für gemeinsames Handeln.

Deshalb war es mir so wichtig, beim G7-Treffen letzten Juni Vertreter Asiens, Afrikas und Lateinamerikas nicht nur mit am Verhandlungstisch zu haben, sondern auch gemeinsam Lösungen für die Herausforderungen zu erarbeiten, die in diesen Regionen im Fokus stehen: wachsende Armut und Hunger, auch als Konsequenz aus Russlands Krieg, aber eben auch die Folgen von Klimawandel und Coronapandemie.

Damit bin ich bei meiner siebten und letzten These: Wenn die multipolare Welt des 21. Jahrhunderts eine Ordnung sein soll, die auf Recht basiert und die Unrecht ahndet, dann brauchen wir neue Formen internationaler Solidarität und Mitsprache.

Das hat auch die MSC erkannt, lieber Herr Heusgen, indem sie den Austausch mit allen Ländern sucht, die unser Interesse an einer Welt teilen, in der Macht an Regeln gebunden ist, die nicht revisionistisch ist. Dafür werbe auch ich; daran arbeite auch ich. Ich bin froh, viele von Ihnen dabei an meiner Seite zu wissen, und freue mich jetzt auf unsere Diskussion.