Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des 20. Juli 1944 in Berlin am 20. Juli 2019

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Exzellenzen,
sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Damen und Herren, die Sie Bund und Länder repräsentieren,
ganz besonders: liebe Frau von Hammerstein - Sie begrüße ich stellvertretend für die Familien und Angehörigen der Frauen und Männer des Widerstands -,
sehr geehrte Damen und Herren!

In diesem Hof wurden vor 75 Jahren Friedrich Olbricht, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und Werner von Haeften hingerichtet. Ihr Mitverschwörer Ludwig Beck starb schon vorher im Bendlerblock. Das Attentat auf Hitler war gescheitert - ebenso der Versuch des Staatsstreichs. Dieses Scheitern bedeutete eine Katastrophe - für unser Land, für Europa und die Welt. Viele Millionen Menschen wurden in den zehn Monaten vom 20. Juli 1944 bis zum Kriegsende 1945 noch Opfer des Kriegs und der Shoa.

Die Nationalsozialisten diffamierten Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Mitverschwörer als verbrecherische Vaterlandsverräter und kleine Clique von Ehrgeizlingen. Die Angehörigen verloren ihre Ehemänner und Väter, ihre Söhne und Brüder. Sie selbst erfuhren Demütigung und Gewalt. Viele wurden verhaftet, manche in Konzentrationslagern interniert.

Mehrere Kinder wurden nach dem 20. Juli 1944 ihren Eltern entrissen und in ein Kinderheim nach Bad Sachsa verschleppt. Das jüngste unter ihnen war gerade wenige Wochen alt, das älteste Kind 15 Jahre. Im Heim wurden diesen Kindern neue Namen gegeben und die Bilder ihrer Eltern genommen, um die Erinnerung an ihre Herkunft auszulöschen. Dies ist aber nicht gelungen. Eines dieser Kinder, die damals zwölfjährige Christa von Hofacker, vermerkte in ihren Aufzeichnungen 1946: "Ob wir wohl nie mehr unsere Namen sagen durften? Ob wir uns immer wirklich unserer Herkunft schämen sollten? Nein, nie könnte ich das tun. Auf Vater muss man stolz sein und auf all die anderen auch!"

75 Jahre nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler gedenken wir der Frauen und Männer des Widerstands vom 20. Juli 1944 mit größter Hochachtung. Sie handelten, als andere schwiegen. Sie folgten ihrem Gewissen und übernahmen Verantwortung für ihr und unser Land, als andere wegsahen. Sie stellten sich einem unmenschlichen System entgegen. Ihnen war sehr bewusst, welche Folgen ihr Handeln für sie und ihre Familien haben konnte. Sie waren bereit, das größte Opfer, ihr Leben, zu erbringen. Sie stellten Menschlichkeit über ihr eigenes Menschenleben.

Der Blick auf die Widerstandskämpfer vom 20. Juli hat sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt   zum Glück, muss man sagen. Denn auch das Ende des Krieges brachte ihren Familien noch keineswegs die Anerkennung, die sie verdient hätten. Allzu oft wurden sie weiter verleumdet und verächtlich gemacht. Es gab viele Missverständnisse. Es gab Abwertungen, aber auch Überhöhungen. Es gab Zerrbilder und oft zu wenig Kenntnis der Ereignisse.

Heute gibt es einen Gedenkort und die Gedenkstätte Deutscher Widerstand an dieser Stelle, direkt am Berliner Dienstsitz des Bundesverteidigungsministeriums. Die Einrichtung dieses Gedenkorts ging auf eine Anregung Angehöriger zurück. Sie fanden an dieser Stelle einen Ort ihrer persönlichen Trauer. 

Doch dieser Ort ist mehr. Er ist auch ein Ort des gemeinschaftlichen und offiziellen Gedenkens. Dass das Gedenken an die Männer und Frauen des Widerstands zu unserer Staatsräson gehört, dies zeigt sich auch an dem feierlichen Gelöbnis, das junge Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten hier und heute abgelegt haben.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist zu einer Symbolfigur des Widerstands geworden. Aber seine Geschichte ist nicht die einzige Geschichte des Widerstands - so wie auch der 20. Juli nicht den einzigen Akt des Widerstands markiert. Von Anfang an fanden sich mutige Menschen, die sich gegen das nationalsozialistische Regime zur Wehr setzten. Und obwohl viel zu wenige aufstanden, war der Widerstand doch vielfältig. Heute ehren wir das Andenken aller, die sich dieser unmenschlichen Diktatur widersetzten. 

Wir denken an den Kreisauer Kreis, die Weiße Rose und die Rote Kapelle. Wir denken an den Widerstand kleinerer Gruppen wie der Berliner Widerstandsgruppe "Onkel Emil" - ein Kreis Intellektueller, die während der Kriegsjahre verfolgte Juden und ausländische Zwangsarbeiter unterstützten. Wir denken an die Gruppe um Helmuth Hübener, der Flugblätter in Hamburger Arbeitervierteln verteilte. Wir denken an standhafte Persönlichkeiten wie Carl Friedrich Goerdeler und Julius Leber. Wir gedenken des kommunistischen Widerstands. Wir erinnern an den Widerstand der evangelischen Christen der Bekennenden Kirche und der katholischen Christen um Priester wie Bernhard Lichtenberg oder Kardinal von Galen. Wir erinnern auch an den Widerstand der Zeugen Jehovas und der Sinti und Roma.

Nicht zuletzt denken wir an den jüdischen Widerstand -   insbesondere an den Aufstand im Warschauer Ghetto im April 1943, aber auch an diejenigen in den Vernichtungslagern Treblinka und Sobibor. Ich erwähne auch die mutigen Menschen, die Juden bei sich versteckten oder ihnen auf andere Weise halfen, zu überleben. So manche, auch namentlich nicht bekannte sogenannte "Stille Helden" zeigten auf vielerlei Weise ihre Gegnerschaft zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

In wenigen Tagen, am 1. August, wird in Polen des Warschauer Aufstands vor 75 Jahren gedacht, des größten Aufstands gegen die nationalsozialistischen Besatzer. Dessen blutige Niederschlagung forderte unfassbar viele Opfer, vor allem Zivilisten. Auch an sie möchte ich in tiefer Demut erinnern.

Heute ehren wir den Widerstand gegen die Tyrannei des Nationalsozialismus - unabhängig von jeweiligen persönlichen, ideologischen oder religiösen Überzeugungen. 

Wie aber schafft es ein Mensch, sich einem unmenschlichen, aber schier übermächtigen System entgegenzustellen? Wie schafft es ein Mensch, in tiefster Finsternis ein Licht der Menschlichkeit zu entzünden und anderen zu leuchten?

Was alle, die aufstanden, einte, das war ihr Gewissen. Mit ihren Überzeugungen und Wertvorstellungen sahen sie sich zum Handeln verpflichtet. Sie waren sich gewiss, ein Nichthandeln nicht rechtfertigen zu können - weder vor sich noch vor anderen. Eugen Bolz fasste es kurz und knapp zusammen: "Ich muss dabei sein."

Wenn wir unsere europäische Geschichte erzählen und uns auf europäische Werte berufen, haben wir auch das Beispiel dieser - im Wortsinn - todesmutigen Frauen und Männer vor Augen, die ihr Leben für Freiheit, Recht und Menschlichkeit riskierten und opferten. Was bedeutet uns ihr Beispiel heute? Was haben sie uns in unserer heute gänzlich anderen Zeit zu sagen? 

Die Männer und Frauen des Widerstands sind ihrem Gewissen gefolgt. Sie stehen für alle Menschen, die für Menschlichkeit, Recht und Freiheit kämpfen. Das Andenken der Männer und Frauen des Widerstands in Ehren zu halten, bedeutet also weit mehr als historisches Wissen zu vermitteln. Auch durch sie konnten wir die Lehren aus der Vergangenheit für uns ziehen und die Grundlagen unseres Zusammenlebens gestalten. 

Ihr Handeln war eine der Inspirationen für die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes, das nur fünf Jahre später, am 23. Mai 1949, verabschiedet wurde. Der Artikel 1 des Grundgesetzes besagt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." In Artikel 4 des Grundgesetzes wird die Freiheit des Gewissens festgeschrieben. Es heißt: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich."

Das Grundgesetz wurde zum Fundament eines geregelten Zusammenlebens in unserer freien und rechtsstaatlichen Demokratie. Die Institutionen unseres Staates verkörpern und schützen die Grundrechte unseres Grundgesetzes. Damit unterscheidet sich unsere heutige Lebenssituation fundamental von der in der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft. Aber: Auch die Institutionen unseres Rechtsstaates leben durch das Handeln seiner Bürgerinnen und Bürger. Und für uns als Bürger der heutigen Bundesrepublik Deutschland sind die Männer und Frauen des Widerstands Vorbilder, auch wenn die Umstände völlig andere sind.

Setzen auch wir uns für Menschlichkeit, Recht und Demokratie ein? Oder nehmen wir dies als selbstverständlich hin und begnügen uns damit, zu denken, dass sich darum schon andere kümmern? Bringen wir Zivilcourage auf, wenn wir Zeugen von Antisemitismus und Rassismus, von Demütigungen und von Hass werden? Oder sehen wir lieber darüber hinweg, weil es für uns unangenehm werden könnte?

Als Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie haben wir eine Verpflichtung. Zu unserer Verpflichtung gehört, dass Politiker und Ehrenamtliche, die öffentlich Verantwortung übernehmen, deshalb nicht um Leib und Leben fürchten müssen. Zu unserer Verpflichtung gehört, dass Juden in deutschen Städten sorgenfrei die Kippa tragen können. Zu unserer Verpflichtung gehört, dass wir nicht dulden, wenn Menschen gegen andere hetzen, nur weil sie anders aussehen, anders sprechen oder eine andere Meinung vertreten. Es gehört zu unserer Verpflichtung, dass wir unsere rechtsstaatlichen Mittel der Strafverfolgung konsequent einsetzen, wenn Extremisten Menschen bedrohen, verletzen oder gar töten. 

Und es gehört zu unserer Verpflichtung, dass das Wissen um unsere Geschichte nicht verblasst. Dieses Wissen und die Lehren daraus muss sich jede Generation wieder neu erarbeiten. Dafür müssen wir in den Schulen, an den Universitäten, in Museen und Gedenkstätten auch in Zukunft Sorge tragen. Der 20. Juli, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Henning von Tresckow, die Weiße Rose, Julius Leber, der Warschauer Aufstand - all dies muss auch künftigen Generationen ein Begriff sein.

Nehmen wir diese Verpflichtung an - im Kleinen wie im Großen! Bewahren wir das Gedenken an alle Widerständler und ehren wir sie auch dadurch, dass wir uns stark machen für ein freiheitliches und friedliches Zusammenleben! Erweisen wir den Widerstandskämpfern Ehre, indem wir Zivilcourage aufbringen und allgemeingültige Werte verteidigen, statt wegzusehen und zu schweigen! Engagieren wir uns, statt nur auf den eigenen Vorteil zu schauen! Stärken, verteidigen und bringen wir uns ein in unsere rechtsstaatliche Demokratie!

Dies gilt auch für unser Eintreten für die internationale Ordnung, die als Lehre aus den Schrecknissen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs entstanden ist. Europa überwand jahrhundertelange Konflikte. Es entstand eine Friedensordnung, die auf Gemeinsamkeit baut statt auf scheinbare nationalstaatliche Stärke. Wir Europäerinnen und Europäer sind zu unserem Glück vereint. Aber auch heute müssen wir entschlossen für die Zukunft der Europäischen Union eintreten, gegen Nationalisten und Populisten. Mehr denn je   und das gilt über Europa hinaus   müssen wir multilateral statt unilateral denken und handeln, global statt national, weltoffen statt isolationistisch – kurzum: gemeinsam statt allein.

Das sind die Aufgaben unserer Zeit - ob es um Frieden geht, um die Bekämpfung des Klimawandels und des Artensterbens, um die Ausrottung des Hungers oder um Gesundheitsversorgung für alle. Da muss uns das leiten, was Dietrich Bonhoeffer als seine Verantwortung beschrieben hat: "Mag sein, dass der jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht."

Meine Damen und Herren, diejenigen, die den Widerstand gegen die verbrecherische NS-Diktatur wagten, haben an eine bessere Zukunft für ihre Mitmenschen, für Deutschland und für Europa geglaubt, daran gearbeitet und dafür alles riskiert. Haltung und Verantwortung zeigen sich in großen Taten, aber auch in kleinen Gesten. In jedem Fall lassen sich Risiken und Rückschläge nie ganz ausschließen. Ganz gewiss aber lässt sich Zukunft nicht durch Tatenlosigkeit gewinnen. Das gilt auch für uns heute.

Es gibt viele Motive und Motivationen, etwas zum Gemeinwohl beizutragen. Auf welche Weise auch immer jemand mithilft, unser Land noch lebens- und liebenswerter zu machen, es ist die beste Art, den Männern und Frauen des Widerstands ein ehrendes Gedenken zu bewahren.

Vielen Dank!