Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Selensky

(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultandolmetschung)


BK’in Merkel: Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, dass heute der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selensky bei uns ist ‑ ganz herzlich willkommen! Es ist nicht das erste Mal, aber es ist zu einem wichtigen Zeitpunkt. Wir wollen natürlich über unsere gegenseitigen Beziehungen sprechen und haben damit auch schon in einem Vier-Augen-Gespräch begonnen.

Wir sind der Ukraine freundschaftlich verbunden und wir wollen auch die Herausforderungen gemeinsam bewältigen. Ich freue mich auch, dass wir im Kampf gegen die Coronapandemie der Ukraine heute die Abgabe von 1,5 Millionen Impfdosen zusagen können ‑ das ist ein erster Schritt.

Wir sind uns natürlich auch über die Minsker Vereinbarungen in einer sehr problematischen Situation der Ukraine verbunden; denn Frankreich und Deutschland spielen im Normandie-Format natürlich eine bestimmte Rolle im Rahmen der Annexion der Krim und der aus unserer Sicht illegalen separatistischen Herrschaft in den Gebieten von Donezk und Lugansk.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind in den Jahren seit 2013/14 mit sehr viel Mut einen beeindruckenden Weg gegangen, und Präsident Selensky setzt diesen Weg fort. Es geht um Fortschritte bei der Transformation der Gesellschaft, es geht um Transparenz und den Kampf gegen Korruption, es geht um Dezentralisierung. Bei all diesen Fragen hat Deutschland immer mitgeholfen. Ich begrüße außerordentlich, dass Präsident Selensky die Justizreform auch zur Chefsache gemacht hat; denn der Kampf für Rechtsstaatlichkeit und für eine unabhängige Justiz ist etwas ganz Wichtiges. Auch hier wird Deutschland nach seinen Möglichkeiten unterstützen.

Wir haben leider im Zusammenhang mit dem Minsk-Format nicht ausreichend Fortschritte machen können. Ich will ausdrücklich hervorheben, dass die Ukraine bereit war, entlang der Kontaktlinie eine Vielzahl von Besuchspunkten oder Transitpunkten zu eröffnen. Das ist leider nicht in gleicher Weise von der Seite der Donezker und Lugansker Separatisten vereinbart worden. Wir brauchen auf der anderen Seite auch eine Überführung der sogenannten Steinmeier-Formel in ukrainisches Recht. Wir wollen ja zum Schluss auch Wahlen im Donbass haben.

Wir sehen, dass auf die Ukraine sehr großer Druck ausgeübt wurde, und zwar durch eine Vielzahl von militärischen Manövern und eine Verstärkung der russischen Truppenpräsenz auch um die Ukraine herum ‑ ob das an der belarussischen Grenze ist oder ob das an anderen Stellen im Donbass ist. Es bestehen auch sehr schwierige Bedingungen bei der Erreichung des Asowschen Meeres. All das sind Dinge, die die Sorge verstärken, ob man hier zu friedlichen Entwicklungen kommt.

Deutschland wird sich weiter dafür einsetzen ‑ das darf ich für mich sagen, und ich denke, das wird auch von jeder neuen Bundesregierung fortgeführt ‑, dass wir die Minsker Vereinbarungen umsetzen und Fortschritte erreichen. Wir mussten aber gerade in den letzten Tagen wieder feststellen, dass ukrainische Soldaten ums Leben gekommen sind, und das ist sehr schwierig.

Wir haben natürlich auch über das Thema des Transits von Erdgas durch die Ukraine gesprochen und werden das auch weiter tun. Deutschland hat sich zusammen mit der Europäischen Kommission sehr stark dafür eingesetzt, dass es einen Transitliefervertrag gibt. Für uns ist und bleibt die Ukraine Transitland, auch wenn Nord Stream 2 fertiggestellt werden soll. Diesbezüglich gibt es große Sorgen auf der ukrainischen Seite. Die nehmen wir ernst und werden alles daransetzen, sehr deutlich zu machen, dass Nord Stream 2 eben kein Ersatz für die versprochenen Transitlieferungen durch die Ukraine ist. Dieses Thema werden wir heute Abend auch noch weiter besprechen. Das wird auch bei meiner Reise nach Amerika eine Bedeutung haben und eine Rolle spielen; denn auch die Vereinigten Staaten von Amerika halten den Gastransit durch die Ukraine für sehr bedeutend, genauso wie wir.

Der Abend wird also, nachdem wir schon zu sprechen begonnen haben, auch mit weiteren Themen gut gefüllt sein. Ich darf jedenfalls sagen: Wir werden weiter alles tun, um der befreundeten Ukraine auf dem Pfad, den sie geht, in den Beziehungen zur Europäischen Union sowie in der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung und der eigenen Sicherheit zu helfen.

Herzlich willkommen noch einmal!

P Selensky: Guten Abend! Ich möchte sehr danken, Frau Merkel, für die Einladung nach Berlin zu diesem sehr wichtigen Treffen. Wir können noch über keine Ergebnisse sprechen, aber ich kann bereits sagen, dass die Beziehungen zwischen unseren Staaten ‑ wir verstehen das seit Langem ‑ freundschaftlich und stark sind. Die Hauptsache ist, dass sie auch unverändert ganz stabil bleiben.

Deutschland ist einer der Schlüsselpartner der Ukraine, und wir wissen diese Unterstützung ‑ die deutsche Unterstützung und auch die Unterstützung der Frau Bundeskanzlerin für die friedliche Lösung im Donbass ‑ zu schätzen. Unveränderlich bleibt auch die Position Deutschlands in Bezug auf die Annexion der Krim durch Russland, und unverändert ist die Unterstützung unserer europäischen Bestrebungen. Darüber hinaus haben wir auch gesagt, dass die Entwicklung der strategischen Partnerschaft und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern sehr wichtig ist.

Sehr wichtig ist die Frage, die wir heute besprechen wollen ‑ wir haben gerade nur begonnen ‑, nämlich die Frage der Sicherheit. Ehrlich gesagt, ist das eine Priorität für mich, die Priorität in der Ukraine. Es geht um die Ostukraine, es geht um Nord Stream 2. Das, was mit diesem sozusagen wirtschaftlichen Projekt geschieht, ist eine große Bedrohung. Denn der Transport von Gas nach Europa ist ein großer und wichtiger Faktor. Nord Stream 2 bringt eine potenzielle Bedrohung der Sicherheit der Ukraine und der Region. Davon zeugt auch die Konzentration der russischen Truppen an der Staatsgrenze der Ukraine. Diese Konzentration bleibt hoch. Es gab den Abzug der Truppen, aber das war sozusagen eine bedingte, eine relative Sache. Ich würde sagen, dass dieser Abzug überhaupt nicht stattfand.

Mit Blick auf die Frage von Nord Stream 2 habe ich Frau Merkel ganz offen gesagt, dass wir alle zusammen mit Deutschland, mit Frankreich und anderen Teilnehmern des Normandie-Formats diese Frage lösen müssen. Denn dabei geht es um eine Strategiefrage für die Ukraine. Die Schlüsselfrage ist die friedliche Lösung im Donbass. Vielen Dank Deutschland, vielen Dank dem Normandie-Format, durch Frau Merkel, durch Präsident Macron in Frankreich! Ich bin der Meinung, dass es ein schönes Projekt ist, das von der deutschen Seite zusammen mit Frankreich entwickelt wurde. Ich meine die Cluster für die Erfüllung der Minsker Vereinbarung. Auch wir in der Ukraine haben dieses Projekt unterstützt. Dieses Projekt befindet sich zurzeit bei der russischen Seite, in der Russischen Föderation. Aber Russland hat diese Schritte für das Ende des Krieges in Donbass nicht akzeptiert. Ich denke, dass wir alle die russische Seite kontaktieren und Druck ausüben sollten, sodass ein weiteres Normandie-Treffen stattfindet, damit wir den Krieg im Osten der Ukraine beenden, sodass wir auch die annektierten Gebiete zurückbekommen.

Offen gesagt, haben wir nur begonnen, über die Reformen in der Ukraine zu sprechen. Ich bin Frau Merkel sehr dankbar dafür, dass sie sieht, dass wir trotz der komplizierten Situation in der Ukraine, trotz dem Krieg im Donbass Fortschritte als unabhängiger Staat machen. Europa sieht unsere Reformen, unter anderem die Justizreform, die auf jeden Fall eingeleitet wurde. Die ersten Abstimmungen liegen bereits hinter uns. Ich denke also, dass wir heute über diese Dinge noch eingehender und ausführlicher sprechen werden, aber etwas später.

Nun möchte ich für einen konstruktiven Beginn unseres Dialogs danken. Vielen, vielen Dank!

Frage: Guten Tag! Meine Frage geht zunächst an Sie, Frau Bundeskanzlerin. Sie haben eine sehr lange Erfahrung, und die Ukraine war über viele Jahre ein sehr wichtiges außenpolitisches Thema für Sie. Sie haben gesehen, wie die Krim trotz dem Budapester Memorandum annektiert wurde und wie die Ukraine von Russland im Osten des Landes angegriffen wurde. Jetzt sagt man, es gebe Versicherungen, dass die Ukraine auch nach 2024 Gastransitland bleiben werde.

Wären Sie an der Seite der Ukraine, würden Sie eigentlich nach all diesen Erfahrungen diesen Versicherungen Glauben schenken, oder sollten es nicht Garantien, Kompensationen oder irgendwelche andere Alternativen sein? Denn das einfach nur zu glauben, fällt in der Ukraine wahrscheinlich sehr schwer.

Herr Präsident, eine Frage an Sie: Haben Sie während Ihres Treffens tête-à-tête mit Frau Merkel konkrete Antworten auf die Argumente erhalten, die Sie in Bezug auf Nord Stream 2 nach Berlin gebracht haben?

BK’in Merkel: Ich kann die Sorgen der Ukraine durchaus verstehen. Wir wissen allerdings auch, dass das, was gegenüber der Ukraine passiert ist ‑ ‑ ‑ Wenn Sie mich vor zehn Jahren gefragt hätten: „Wird Russland einen Beitrag dazu leisten, dass es Separatisten im Donbass gibt?“, dann hätte ich gesagt, dass ich das auch nicht für möglich gehalten hätte. Auch die Annexion der Krim, das war für uns alle schon ein Schock, mit dem wir uns natürlich auch nicht abfinden.

Das heißt also, dass man immer wieder schauen muss, dass man sozusagen Garantien in Form von Verträgen hat, und selbst über die ‑ Sie haben das Budapester Memorandum erwähnt ‑ ist Putin natürlich einfach hinweggegangen. Die Ukraine hat ihre Nuklearwaffen abgegeben. Die Ukraine hat damit Abschreckungspotenzial verloren. Das heißt, dass wir von der europäischen Seite ja deshalb diesen Vertrag bis 2024 mit verhandelt haben. Für uns ist klar ‑ das weiß auch Russland ‑, dass der Transit durch die Ukraine für uns zu dem gesamten Gasportfolio dazugehört, nicht nur Nord Stream 2. Wir haben Nord Stream 1, wir haben TurkStream. Wir haben viele Rohstoffbeziehungen zur Europäischen Union. Die Ukraine ist ein Teil dieser Beziehungen.

Das werden wir auch so, wie wir es jetzt bis 2024 durchsetzen, als Europäische Union und Deutschland für die Zukunft durchsetzen. Ich glaube, da sind wir nicht ohne Macht. Das haben wir der Ukraine versprochen, und daran werden wir uns auch halten. Ich pflege meine Versprechungen zu halten. Ich glaube, das gilt auch für jeden weiteren deutschen Bundeskanzler.

P Selensky: Ich glaube, die Antwort von Frau Merkel hat Ihnen zu verstehen gegeben, dass sich Deutschland wirklich Sorgen um diese Fragen macht, also die Energiesicherheit in Europa, aber vor allem in der Ukraine.

In der Tat: Als wir uns Ende 2019 im Normandie-Format getroffen haben, hat Deutschland sehr viel geholfen, um einen Druck auf Russland auszuüben. Da ging es um die Arbitrage, damit die Ukraine Geld bekommt. Wir haben damals auch ein wichtiges Papier über den Transit bis zum Jahr 2024 unterschrieben.

Ich bin aber der Meinung, dass solche Garantien ‑ das habe ich auch Frau Merkel gesagt ‑ ein bisschen zu wenig sind. Wenn wir schon über die Energiesicherheit sprechen, dann sollten wir Garantien der Europäischen Union haben, Garantien von Deutschen, Garantien von Frankreich. Nord Stream 2 ist eine von vielen Fragen der Zukunft, die im Normandie-Format besprochen werden sollten.

Ganz konkret zu dieser Idee, die Sie meinen: Wir haben begonnen darüber zu sprechen. Aber ich habe noch keine Antwort von Frau Merkel bekommen. Ich glaube, wir haben zu wenig Zeit ‑ als Menschen, als Staatsführer ‑, und unsere Staaten haben zu wenig Zeit. Wir haben einen Krieg.

Wie es die Frau Bundeskanzlerin gesagt hat: Ja, sie wurde ganz ausführlich informiert. Es kamen schon wieder einige Soldaten aus der Ukraine ums Leben. Wir sollen wirklich Vereinbarungen treffen, um die Zukunft zu bewahren, auch um die Leben unserer Bürger zu bewahren, zu retten. Ich bin zuversichtlich, dass unser Treffen mit konkreten Dingen enden wird.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, wenn ich das richtig verstanden habe, hat Herr Selensky gesagt, dass er dafür wäre, Nord Stream 2 im Normandie-Format zu verhandeln. Ist das etwas, was Sie befürworten würden? Oder erwarten Sie schon am Donnerstag beim Treffen mit Herrn Biden einen Durchbruch in dieser Frage?

Herr Präsident Selensky, sind Sie dafür, dass die Amerikaner künftig im Normandie-Format dabei sind und mitverhandeln?

BK’in Merkel: Wir haben in Paris, als wir das letzte Treffen im Normandie-Format hatten, auch über die Energiefrage gesprochen. Sie gehört formal jetzt nicht in das Normandie-Format und zur Umsetzung der Minsker Vereinbarung. Aber Deutschland und Frankreich empfinden sich natürlich auch als Partner der Ukraine in anderen Fragen. Das heißt, wir sprechen jetzt nicht innerhalb der Minsker Vereinbarung über Gas. Wenn wir uns zu viert treffen und uns in dem Format wieder treffen würden, dann wäre natürlich das Thema Energie auch für uns ein Thema, das wichtig ist, aber sozusagen nicht Teil des Minsker Formates. Das ist schon kompliziert genug. Aber Deutschland und Frankreich haben die gleiche Position, dass die Ukraine ein Energietransitland bleiben muss.

Was jetzt die Diskussionen mit Amerika anbelangt, so sind wir da mittendrin. Ich werde mit Präsident Biden das Thema erörtern. Ob dann schon die Papiere vollkommen fertiggestellt sind, das weiß ich nicht. Ich glaube es eher nicht. Aber es werden wichtige Diskussionen zur Erarbeitung einer solchen gemeinsamen Position sein, die auch ganz in dem Geist stattfinden, wie wir das jetzt eben miteinander besprochen haben.

P Selensky: Ja, in der Tat glaube ich, dass eine der Plattformen auch das Normandie-Format sein kann, wo Energiefragen angesprochen werden können.

Ich habe der Frau Bundeskanzlerin gesagt: Vergessen Sie nicht die Risiken, wenn die Ukraine von dem Gastransit und überhaupt vom Gas abgeschottet wird. Das kann geschehen, das ist ein Risiko, und das ganze Territorium der Ukraine soll sozusagen mit diesem Risiko leben - auch im besetzten Teil des Donbass, und mit Blick auf die Sicherheit dieser Gebiete hat das Normandie-Format ja eine gewisse Verantwortung übernommen.

Was die Involvierung von Präsident Biden ins Normandie-Format angeht: Ja, wir haben es nicht geschafft, darüber zu sprechen. Aber ich möchte, dass die Vereinigten Staaten mithelfen, dass sie uns helfen, diese Fragen der friedlichen Regelung und der Okkupierung zu lösen, also die Befreiung unserer Gebiete. Wenn die Teilnehmer des Normandie-Formats nichts dagegen haben ‑ die Ukraine unterstützt so etwas ‑, dann ist das okay. Oder vielleicht kann ein anderes Format entwickelt werden. Darüber können wir mit Frau Merkel verhandeln. Ich werde mit Präsident Biden auch ein Treffen haben, und ich werde diese Frage auf jeden Fall ansprechen.