Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Ministerpräsident Rama zum Besuch der Bundeskanzlerin in der Republik Albanien am 14. September 2021

(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultandolmetschung)

MP Rama: Guten Tag an alle! Ich möchte sagen, dass dieser Tag gleichzeitig ein schöner und ein trauriger Tag für uns ist. Es ist ein schöner Tag für uns, weil wir das Privileg haben, hier in Tirana eine Freundin des Balkans, der Albaner und aller Völker dieser Region begrüßen zu dürfen. Aber zur gleichen Zeit ist es auch traurig, weil dies ein Abschiedsbesuch der Bundeskanzlerin Angela Merkel ist. Ich denke, dass keine Person nach dem Krieg mehr für unsere Region getan hat als die Bundeskanzlerin. Noch wichtiger ist meiner Meinung nach, dass keine Person diese Region besser verstanden hat als die deutsche Bundeskanzlerin.

 Mit der Bundeskanzlerin gibt es ein kleines Problem. Denn sie mag ja keine Reden, die viele schöne Worte enthalten. Gleichzeitig aber sind wir sehr ehrlich und aufrichtig. Auch ihre Tätigkeit ist sehr ehrlich und aufrichtig mit Blick darauf, dass sie den Berliner Prozess ins Leben gerufen hat. Bei dem Berliner Prozess handelt es sich um eine weitsichtige Vision. Es ging nicht nur um die Überbrückung einer mehrjährigen Phase, sondern darum, zusammen in die Zukunft blicken zu können, und um all die konkreten Ergebnisse und Errungenschaften in den verschiedenen Bereichen, die der Berliner Prozess abdeckt. Ich denke, dass der Geist der Zusammenarbeit und einer gemeinsamen Zukunft die größte Errungenschaft ist.

Heute war es ein Privileg, dass die Bundeskanzlerin in Tirana war. Sie konnte nicht alle Westbalkanländer besuchen. Wir dürfen hier alle bilateralen Treffen mit den Staats- und Regierungschefs unserer Region abhalten. Ich möchte meine größte Dankbarkeit ausdrücken. Ich möchte auch die Freundschaft und Verbundenheit aller Albaner mit Ihnen ausdrücken. Man kann nicht zählen, was alles Deutschland für Albanien geleistet hat; denn es ist viel, auch mit Blick darauf, was die Kanzlerin für die ganze Region getan hat. Andererseits schätzen wir die Tatsache hoch, dass die Bundeskanzlerin, die sozusagen die beste Führungskraft Deutschlands seit mehreren Jahren ist, immer auch der Europapolitik viel von sich gegeben hat.

Ich möchte jetzt nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Denn wir müssen weitermachen. Aber ich möchte sagen, dass der Westbalkan heute ein viel besserer Ort ist als früher, vor der Amtszeit von Kanzlerin Angela Merkel und vor dem Berliner Prozess. Natürlich wird die Bundeskanzlerin in der Politik weiterwirken, egal wer ihr Nachfolger sein wird. Aber die Bundeskanzlerin Angela Merkel wird unserer Region fehlen.

Es ist besser, wenn die Anwesenden mehr Zeit den Worten der Kanzlerin widmen als meinen Worten. Ich übergebe das Wort der Bundeskanzlerin und drücke noch einmal meine tiefste Dankbarkeit aus. Ich möchte sagen, es war ein Privileg, es war eine große Ehre, es war ein Vergnügen, dass ich diese Aufgabe hatte. Meine Amtszeit war gleichzeitig mit der Angela Merkels. Ich hatte die Möglichkeit und die Gelegenheit, viel von ihr zu lernen. Ich hatte die Möglichkeit, mit ihr zusammenzuarbeiten. Heute ist ein Augenblick, in dem wir alle uns all dessen, was die Kanzlerin geleistet hat, sehr bewusst sind. Wir sind uns aber auch dessen bewusst, welche Lücke ihr Ausscheiden hinterlassen wird. Ohne Bundeskanzlerin Angela Merkel wird der Balkan nicht das sein, was er heute ist. Auch Europa würde nicht das sein, was es heute ist, trotz einigen Herausforderungen, die noch eine Lösung für die Zukunft brauchen.

Die Kanzlerin, die während ihrer Amtszeit in vielen Bereichen überall auf der Welt engagiert war, wird in naher Zukunft ein bisschen freier sein und wird die Zeit und, wie ich hoffe, auch den Wunsch haben, wieder auf den Westbalkan zurückzukehren und wieder nach Albanien zu kommen, um unsere Realität aus der Nähe zu beobachten und uns zu lesen und zu verstehen, vielleicht auch um eine Belohnung zu bekommen nach all ihrer unermüdlichen Arbeit. Sie kann vielleicht unsere Sonne und unseren Humor auf dem Balkan genießen. Ich bin mir sicher, dass der Westbalkan Europa voraus ist, was Humor, Sonne und Temperament angeht.

Vielen Dank.

BK’in Merkel: Was Sonne angeht, stimme ich zu. Was Humor angeht, müssten wir das einer vertieften Prüfung unterziehen. Bestimmt ist aber der Humor ein anderer.

Lieber Edi Rama, ich möchte mich bei dem albanischen Ministerpräsidenten dafür bedanken, dass ich im ersten Teil des heutigen Tages einen bilateralen Besuch absolvieren konnte und wir auch bilaterale Themen besprechen konnten. Die Beziehungen zu Albanien sind sehr gut. Wir können unsere wirtschaftliche Kooperation noch ausbauen. Das haben wir deutlich gemacht.

Ich möchte Albanien auch zu den Anstrengungen, die in den letzten Jahren gerade auch im Rechtssystem unternommen wurden, beglückwünschen. Albanien und Nordmazedonien, beide haben den Zustand erreicht, dass wir die Beitrittsverhandlungen aufnehmen und die Beitrittskonferenz durchführen könnten. Leider ist uns das während der deutschen Ratspräsidentschaft nicht mehr gelungen, weil es einen Einspruch eines Mitgliedsstaates, nämlich Bulgariens, im Hinblick auf Nordmazedonien gab. Aber wir haben besprochen, dass wir unbedingt dranbleiben müssen, damit der Beitrittsprozess vorangeht. Denn es ist viel Kraft und viel Mühe in diesen Prozess investiert worden.

Wir haben dann im Rahmen des Berliner Prozesses eine Diskussionsrunde bei einem Mittagessen mit allen sechs Regierungschefs der Staaten des westlichen Balkans gehabt. Ich freue mich natürlich, dass aus der Idee des Jahres 2014, einen solchen Prozess aufzusetzen, jetzt doch eine starke Pflanze geworden ist, die das ganze Miteinander in vielerlei Hinsicht schon verändert hat, zum einen im Hinblick darauf, dass zwischen den Staats- und Regierungschefs Kommunikation herrscht. Man spricht miteinander, man trifft sich ganz normal. Das war heute kein besonderes Ereignis, sondern solche Ereignisse finden permanent statt. Das gab es früher so nicht. Zum anderen ist aber auch die Zusammenarbeit insgesamt sehr verstärkt, sei es in der Zivilgesellschaft, im Jugendaustausch oder im Bereich der Wissenschaften. Wir haben eben noch einmal über die wichtigen transnationalen Infrastrukturprojekte gesprochen, die zum Teil recht langsam vorangehen, aber bei denen man jetzt doch erste Schritte sieht, etwa gestern in Serbien bei der Autobahn des Friedens, zu der es den ersten Spatenstich mit Ursula von der Leyen geben wird.

Wir haben heute ein Thema miteinander besprochen, dessen Wichtigkeit man auch nicht unterschätzen darf. Wenn diese Länder der Europäischen Union beitreten, dann treten sie einer Europäischen Union bei, die jetzt auch ein Fit-for-55-Paket verabschieden wird, die also Klimaneutralität bis 2050 anstrebt. Das heißt, dass sich die Energiepolitik, das Wirtschaften und die Art der Energieversorgung auch hier in den Ländern des westlichen Balkans verändern werden. Das müssen wir beizeiten miteinander besprechen. Dabei gibt es sicherlich auch noch sehr viele Möglichkeiten regionaler Kooperationen.

Ich begrüße das Projekt des regionalen gemeinsamen Marktes mit den vier Arrangements, wie es so schön heißt, also den vier Verabredungen, ausdrücklich. Hierbei machen nicht alle sofort mit. Darüber haben wir heute sehr ausführlich gesprochen. Einige sind schon dabei, das umzusetzen; andere überlegen noch. Aber ich denke, dass wir alle heute Einigkeit darüber gehabt haben, dass, je mehr an gemeinsamer Arbeit auch in diesem Zusammenhang besteht, desto besser und stärker auch der Berliner Prozess ist.

Ich habe es noch einmal deutlich gemacht und möchte das auch hier tun: Der Berliner Prozess ist kein Ersatz für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Die Beitrittsverhandlungen jedes einzelnen Landes finden statt. Die Länder sind auf einem unterschiedlichen Stand. Manche warten jetzt auf die Eröffnungskonferenz. Serbien und Montenegro sind schon weiter fortgeschritten. Kosovo hat noch gar keinen Beitrittsantrag gestellt; Bosnien-Herzegowina hat einen Beitrittsantrag gestellt. Jeder hat hier also eine unterschiedliche Stufe, aber das ist etwas anderes ‑ und das muss auch fortgesetzt werden, und zwar energisch fortgesetzt werden ‑ als die regionale Kooperation, die nichtsdestotrotz sehr sinnvoll ist. Man kann auch die europäischen Gelder, die für den Beitrittsprozess zur Verfügung stehen, viel besser einsetzen, wenn man nicht nur seine nationalen Projekte macht, sondern sie auch gleich so macht, dass die gesamte Region miteinander gut verbunden wird.

Es war eine konstruktive Diskussion. Ich werde jetzt noch mit den Regierungschefs, deren Länder ich nicht besuchen konnte, bilaterale Gespräche führen. Unsere Arbeit heute zielt ja schon darauf hin, dass wir uns mit den Staaten des westlichen Balkans am 6. Oktober noch einmal unter der slowenischen Präsidentschaft treffen. Vielleicht können wir bis dahin dann schon kleine Fortschritte ‑ keine übergroßen Fortschritte, aber kleine Fortschritte ‑ sehen.

Es war ein gutes, konstruktives Gespräch, und ich möchte mich insgesamt bedanken. Es ist ja das eine, dass ich davon überzeugt bin, dass aus geostrategischer Sicht die Europäische Union, also auch Deutschland, das Land, das ich hier vertrete, ein absolutes Interesse an der Integration der Länder des westlichen Balkans in die Europäische Union hat. Das andere ist aber die Frage: Wird ein solcher Vorschlag einer Zusammenarbeit im Rahmen des Berliner Prozesses denn aufgenommen und angenommen? Ich möchte mich bei allen, aber vor allen Dingen auch bei Edi Rama, ganz herzlich bedanken, denn es ist aufgenommen worden. Ob ihr euch trefft oder nicht trefft, können wir ja nicht von deutscher Seite oder europäischer Seite befehlen, aber ihr tut es inzwischen und es ist Bewegung in die Sache gekommen. Das begrüße ich sehr, und ich wünsche mir, dass das so weitergeht.

Mein Herz wird auch dann für diese Region schlagen, wenn ich politisch nicht mehr in dem Amt, das ich jetzt bekleide, sein werde. Wie gesagt, die Sonne wird mich vielleicht reizen, aber auch die Entwicklung dieser Länder; denn wir wünschen uns sehr, dass Wohlstand, Prosperität, Arbeitsplätze, Stabilität und Frieden in dieser Region dauerhaft erhalten bleiben. Dafür lohnt es sich zu arbeiten. Ich gehe in jedem Falle ‑ egal wie die deutschen Wahlen ausgehen ‑ davon aus, dass es von deutscher Seite eine große Kontinuität im Interesse an dieser Region geben wird.

Frage: Wie der Premierminister gesagt hat, gefällt Ihnen Lob nicht. Ich möchte Sie in Bezug auf (akustisch unverständlich) fragen: Sie waren auch in Belgrad. Der Premierminister hat gesagt: Wir haben ein besseres Klima auf dem Westbalkan. Aber was den Berliner Prozess und den Integrationsprozess angeht, sind wir in der gleichen Situation, im gleichen Status wie 2014. In Rahmen dieser Initiative von 2014 hat man sich mehrere Projekte überlegt, aber keines von diesen Projekten wurde in Gang gesetzt. Nennen Sie das ein Scheitern?

Die gleiche Frage geht auch an den Premierminister: Sehen Sie den Berliner Prozess als ein Scheitern?

BK'in Merkel: Nein, und das stimmt ja auch so nicht. Man kann vielleicht sagen, dass noch keine Autobahn fertig gebaut ist, aber es sind in den Planungsprozessen, in den Festlegungen der Routen ‑ ‑ Es gibt einige Spatenstiche, es gibt einige Energieprojekte, es gibt ein funktionierendes Jugendwerk zwischen den Staaten des westlichen Balkans, es gibt eine funktionierende Wissenschaftskooperation zwischen den Staaten des westlichen Balkans. Davon, dass hier gar nichts passiert sei, kann also keine Rede sein.

Das gilt gerade auch, was die zivilgesellschaftliche Kooperation betrifft. Ich habe gestern aus jedem Land auch Vertreter einer zivilen Organisation, also einer NGO, getroffen, die mir erzählt haben, wie man dort zusammenarbeitet. Das alles ist in Gang gekommen, und damit hat sich der Zustand deutlich geändert. Zwischen 1947 und 2014 gab es keinen direkten Besuch zwischen einem albanischen Regierungschef und einem serbischen Regierungschef. Ich weiß nicht, ob man die Besuche zwischen Aleksandar Vučić und Edi Rama seitdem noch zählen kann, aber da ist jedenfalls eine ganz andere Normalität in Gang gekommen.

Insofern kann man nicht sagen, es sei nichts passiert. Manches dauert vielleicht etwas länger, als man gehofft hat. Gerade was Planungsverfahren anbelangt, ist die Europäische Union manchmal nicht so schnell und stellt auch harte Umweltanforderungen. Vieles ist aber auf den Weg gebracht worden.

MP Rama: Ich glaube, dass wir den ganzen Prozess in einem historischen Kontext betrachten sollten. Als die Bundeskanzlerin uns 2014 nach Berlin eingeladen hat, war es das erste Mal in der Geschichte dieser Region, dass eine solche Einladung an uns ausgesprochen wurde. Alle Staatsoberhäupter dieser Region trafen sich und saßen zusammen an einem Tisch, um über die Zukunft zu reden ‑ nicht, um sich gegenseitig zu schlagen oder zu schlachten.

Um weiterzumachen mit der Argumentationsweise der Bundeskanzlerin: Dieser Prozess hat den Weg bereitet für eine Kommunikationsaufnahme zwischen Serbien und Albanien mit dem Zweck der regionalen Weiterentwicklung, und das vor dem geschichtlichen Hintergrund, dass sich die Staatschefs nie getroffen hatten, obwohl unsere beiden Länder sich geografisch so naheliegen.

Die Mechanismen, die in Gang gesetzt werden, was wirtschaftliche Projekte angeht, laufen ein bisschen langsam, ja, aber auch bei der Initiative des Open Balkan ‑ die eine Initiative dreier Länder ist, wobei aber weiterhin beabsichtigt ist, alle sechs Westbalkanländer zu umschließen ‑ konnten wir verstehen, dass wir durch die Zusammenarbeit, durch die Kommunikation, durch Interaktion weiter eine gemeinsame Zukunft errichten können.

Auch die Konflikte, die wir von der Geschichte geerbt haben, haben durch den Berliner Prozess mehr Möglichkeiten für eine Lösung erfahren. ‑ Ich glaube, es fiele mir leichter, darüber zu sprechen, wenn die Bundeskanzlerin nicht da wäre; denn das ist wieder ein Kompliment. ‑ In der Geschichte dieser Region hat Angela Merkel hier einen großen Meilenstein für ganze Generationen gelegt. Das sind Generationen, die mit Objektivität schätzen werden, was die Bundeskanzlerin initiiert hat.

Natürlich ist es für alle Beteiligten einer Region legitim, sich zu wünschen, dass alles in einem schnelleren Tempo abläuft. Wir müssen aber verstehen, dass wir in diesen Zeiten gerade Jahrzehnte oder Jahrhunderte unserer Geschichte überbrücken. Für mich ist es also überhaupt kein Scheitern, sondern in Wirklichkeit ist das eine langfristige Vision, die von einer Regierung auf die andere übertragen wird, von einer Generation auf die nächste, um hier in unserem Land und in unserer Region zu verwirklichen, was die Bundeskanzlerin vorausgesehen hat.

Die Kanzlerin kommt aus einer Vergangenheit, die der unseren ähnlich ist. Wir hatten in der Vergangenheit nicht eine solche Persönlichkeit in der Führung von Europa, eine Persönlichkeit, die weiß, was Zensur ist, was Diktatur ist, was Kommunismus bedeutet und was Unterdrückung von Menschenrechten und Freiheiten bedeutet und ist. Das hat tatsächlich dazu geführt, dass nicht nur der Ansatz der Bundeskanzlerin, sondern auch der Ansatz Deutschlands in Bezug auf unsere Region sehr erfolgreich und gut gewesen ist. Ich hoffe, dass ihr Nachfolger weiterhin die Augen auf unsere Region hält.

Aber trotzdem kann ich versichern, dass der Westbalkan jetzt die richtige Kurve auf dem Weg in die Integration genommen hat. Wir brauchen ja nicht an die Hand genommen werden, sondern können mit der EU und mit Deutschland zusammenarbeiten.

Frage: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, eine Frage an Sie beide: Gerade Länder wie Albanien haben ja nun die Erfahrung gemacht, dass alle Bemühungen um den EU-Beitritt nichts helfen, wenn sich ein EU-Land querstellt. Welche Initiative, welche Hoffnung konnten Sie bei dem heutigen Gipfel mit Blick auf die nächsten kleinen Schritte schöpfen oder geben?

Frau Bundeskanzlerin, können Sie sich vorstellen, sich auch nach Ihrer Kanzlerschaft als Freundin des Balkans in einer aktiven Rolle, als aktive Vermittlerin, um die Belange des Balkans zu kümmern?

BK'in Merkel: Ich beabsichtige keine aktive politische Rolle, das habe ich ja schon oft gesagt. Ich werde aber eine Freundin des Balkans bleiben, und werde sicherlich, wenn man mich um Rat fragt, auch weiter Rat geben.

Die Erfahrung, dass einer alles aufhalten kann, machen wir in der Europäischen Union ja häufiger; das ist also keine Spezialität, die nur Albanien und Nordmazedonien trifft. Ich bin guter Hoffnung ‑ wir haben uns ja schon während der deutschen Präsidentschaft sehr angestrengt und es sind jetzt weiter Gespräche geführt worden. Charles Michel als Ratspräsident versucht auch mit Bulgarien zu sprechen. Bulgarien ist im Augenblick in einer Phase von Wahlen und es gibt keine aktive Regierung. Ich denke aber, wir haben schon manches dicke Brett auch mit der Einstimmigkeit in der Europäischen Union gebohrt.

Es hat lange gedauert, bis Nordmazedonien und Albanien die Bereitschaft von allen Mitgliedstaaten bekommen haben, den Beitrittsprozess zu eröffnen. Jetzt ging es um die Eröffnungskonferenz ‑ da haben wir noch keine Einheit gefunden. Ich denke aber, das wird noch passieren ‑ auch wenn es manchmal eine wirkliche Geduldsprobe ist; das kann ich gut verstehen. Darüber haben wir mit dem Ministerpräsidenten ja auch sehr offen gesprochen.

MP Rama: Ich kann sagen: Früher, als die Balkanländer in großen Konflikten miteinander waren oder wenn sie gerade aus einem Konflikt gekommen waren, wurde immer gesagt, der EU-Integrationsprozess würde den Nationalismus enthärten. Wir sind heute aber sozusagen eine Geisel des Nationalismus der Länder Europas. Es gibt keine nationalistische Regierung in Europa, aber in manchen Ländern üben die Nationalisten und die Rechtsextremisten einen Einfluss auf die Entscheidungen der Regierungen aus. Was heute geschieht, ist eine Geiselnahme des Integrationsprozesses durch den nationalistischen Geist in einem bestimmten Land.

Da wir heute auch die Bundeskanzlerin hier haben: Ich denke, bis heute ist es nie passiert, obwohl der Druck groß gewesen ist, dass Deutschland und das Bundeskanzleramt den EU-Integrationsprozess mit der Innenpolitik verbunden haben. Das gleiche kann ich aber nicht über andere Länder sagen.

Ich kann sagen: Angela Merkel hat die Ehre Europas gerettet, als Deutschland als einziges Land syrische Flüchtlinge aufgenommen hat. Der innere Druck wurde nie zur Außenpolitik Deutschlands. Natürlich können wir für eine längere Zeit Geisel des Vetos einiger Länder in Europa sein, die sehr reich sind, aber auch weniger reicher Länder.

Frage: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, mit Ihrem Ausscheiden aus der Politik wird der Westbalkan eine starke Befürworterin und eine werte Freundin verlieren. Was glauben Sie, welcher von Ihren europäischen Kollegen sich in der gleichen Art und Weise um den Westbalkan kümmern könnte, in der Sie sich dafür eingesetzt und engagiert haben?

Premierminister, was sollte auf der Agenda prävalieren, Open Balkan oder der Berliner Prozess?

BK'in Merkel: Na ja, der Berliner Prozess, wenn ich das einfach sagen darf, ist natürlich das Kernstück. Manche Vorhaben des Berliner Prozesses können einige Länder vielleicht schon schneller und andere langsamer umsetzen, aber damit ist der Berliner Prozess nicht ersetzt. Die Frage ist vielmehr: Kann man auch schon innerhalb des Berliner Prozesses vorangehen?

Schauen Sie, erstens hat der westliche Balkan in den letzten Jahren doch gelernt, zusammenzuarbeiten und nicht nur zusammenzusitzen, wenn ich dabei bin oder Sebastian Kurz dabei ist oder Emmanuel Macron dabei ist oder Ursula von der Leyen oder Charles Michel dabei sind. Das heißt also, es gibt viele Freunde des westlichen Balkans; ich will das ausdrücklich sagen. Emmanuel Macron hat die ganze Region bereist. Wir haben vor, glaube ich, zwei Jahren gemeinsam Treffen in Berlin durchgeführt. Wir arbeiten einzeln und gemeinsam an den gleichen Projekten, wenn es um Kosovo und Serbien geht. Sebastian Kurz ist ein großer Freund des westlichen Balkans.

Wie ich Ihnen auch gesagt habe, wird jeder neue deutsche Bundeskanzler ein Herz für diese Region haben, allein weil wir aus jedem der Länder des westlichen Balkans ganz viele Menschen haben, die in Deutschland leben, die in Deutschland arbeiten und die Teil unseres Wohlstands sind. Wir haben ein großes strategisches Interesse daran, eng mit dieser Region zusammenzuarbeiten, und das haben wir nicht nur unter meiner Kanzlerschaft gezeigt, sondern auch vorher. Bei mir kamen einige Dinge dazu, wie Edi Rama es gesagt hat: Ich komme aus der ehemaligen DDR. Ich habe ein gespaltenes Land gesehen. Ich habe gesehen, welche Kraft man auch braucht, um historische Differenzen zu überbrücken; im Hinblick auf Deutschland und Polen, im Hinblick auf das, was wir im Nationalsozialismus angerichtet haben. Jeder deutsche Kanzler wird sich also auch dieser Verantwortung wieder bewusst sein.

Der westliche Balkan hat also viele Freunde in Europa; das darf ich Ihnen versichern.

MP Rama: Die Kanzlerin hat auch die Frage, die an mich gerichtet wurde, beantwortet. Erlauben Sie mir, auch eine Antwort auf die Frage zu geben, die an die Frau Bundeskanzlerin gerichtet wurde. Angela Merkel ist eine Persönlichkeit, die nie wieder zurückkommen wird - aufgrund ihrer Geschichte, ihrer Vergangenheit und ihrer außerordentlichen Erfahrung während ihrer vier Amtszeiten als Lokführerin der EU.

Open Balkan ist ein Kind des Berliner Prozesses. Es ist keine Initiative als Gegenmittel zum Berliner Prozess. Open Balkan ist ein Mechanismus, um den Berliner Prozess zu beschleunigen; das ist es. Es gibt in der Initiative Open Balkan nichts, das in Widerspruch zum Berliner Prozess stehen könnte. Sie ist nur eine Initiative, um die Situation in die Hand zu nehmen, ohne darauf zu warten, dass andere Leute etwas für uns tun. Die Ergebnisse werden dafür sprechen: Open Balkan ist nicht mehr als ein Mittel unserer Region, um den Berliner Prozess zu implementieren. Wer diese zwei Initiativen gegeneinandersetzt, der macht das entweder absichtlich, oder diese Person versteht die beiden Initiativen und den Prozess nicht.

Wir haben auch mit den Kollegen über diese konspirativen Theorien diskutiert, dass der Berliner Prozess und der Open-Balkan-Prozess von dritten Parteien organisiert worden seien. Sie wurden hier aufgeworfen, um uns sozusagen Sand in die Augen zu streuen, um hier eine Mini-EU zu bilden, damit wir der EU gar nicht beitreten können. Die Kanzlerin hat gesagt: Ihr seid nicht die EU, aber ihr seid Europäer. Weil ihr Europäer seid ‑ aus diesem Grund ‑, müssen wir einen Prozess starten, damit wir alle ‑ ihr gemeinsam und wir als Unterstützer und Befürworter ‑ zusammenarbeiten, damit diese Region des Westbalkans politisch, sozial und wirtschaftspolitisch angehoben wird. Wir können nicht darauf warten, zuerst einmal der EU beizutreten, um dann unsere Autobahnen, unsere Infrastruktur oder unsere digitale Infrastruktur zu errichten. Nein, wir sollten das nicht abwarten. Wir sollten auch unseren gemeinsamen regionalen Markt aufbauen. Wir können schon jetzt damit beginnen.

Frage: Geehrte Frau Bundeskanzlerin, welche Schritte, denken Sie, sollte die EU unternehmen, um ihrem Ziel näherzukommen? Sie hatten ja gesagt, geostrategisch sei es wichtig, dass auch der Westbalkan Teil der EU sein soll.

BK'in Merkel: Ja, die EU ‑ das heißt, „die EU“ gibt es ja nicht; das sind die Mitgliedstaaten ‑ sollte auf der einen Seite schon sagen, was die Voraussetzungen sind, um der EU beizutreten oder den Beitrittsprozess zu beginnen. Wir haben ja, wenn ich Albanien als Beispiel nehme, sehr klar gesagt, was im Rechtssystem verändert werden muss und was an anderen Stellen verändert werden muss. Aber wenn die Bedingungen erfüllt sind, dann muss die EU auch Wort halten und sich nicht immer noch neue Bedingungen ausdenken, weil sie selbst keine Lust hat ‑ vielleicht in manchen Ländern aus innenpolitischen Gründen ‑, den Beitrittsprozess dann voranzutreiben. Das erzeugt Enttäuschung, und die Enttäuschung verstehe ich auch, weil dann immer wieder nationale Fragen in den Vordergrund kommen.

Natürlich brauchen auch wir in Deutschland jedes Mal eine Zustimmung des Parlaments. Mein Parlament liest zum Beispiel sehr genau die Berichte der Europäischen Kommission über die Erfüllung der Bedingungen. Wir haben viele Mitglieder des Deutschen Bundestags, die in die Region fahren und die sich selbst ein Bild machen. Die schauen sich das an. Die sprechen mit NGOs und mit der Zivilgesellschaft. Aber wenn dann die Bedingungen erfüllt sind, dann müssen wir wirklich Wort halten, sonst entsteht Enttäuschung, und solche Enttäuschung gab es schon. Da setze ich mich dafür ein, dass wir uns aufeinander verlassen können.

Frage: Premierminister Rama, welche Ziele hat Ihre Regierung in der dritten Amtszeit aufgrund der Tatsache, dass Ihre zwei vorherigen Regierungen schon die Geburt des Berliner Prozesses begleitet haben? Was für Ziele haben Sie auch für die Entwicklung der Wirtschaft?

MP Rama: Das ist sehr einfach. Die Kanzlerin betont das Bedürfnis und die Notwendigkeit, dass die sechs Westbalkanländer diese Abkommen über den gemeinsamen regionalen Markt unterzeichnen. Der Prozess der Einigung zwischen den sechs Ländern ist ein bisschen verworren. Man hat in der Vergangenheit auch gesehen, dass, wenn eines der Länder Zweifel hat, das dann ein Grund ist, den Prozess zu behindern. Open Balkan ist nicht dazu da, jemanden auszuschließen, sondern wir haben diese Initiative geschaffen, um voranzukommen und weiterzugehen, um nicht Geisel der konspirativen Theorien zu bleiben.

Am Ende des Tages müssen wir wissen: Der Berliner Prozess beinhaltet die vier Freiheiten, die Bewegungsfreiheit, die Freiheit der Bewegung des Kapitals, die Freiheit der Investitionen, die von den Paketen der Kommission von Frau Ursula von der Leyen kommen. Diese Prozesse verlaufen parallel. Was die Verwirklichung der vier Freiheiten angeht, ist das eine Sache des Tempos. Ein Hindernis war, dass Serbien nicht bewilligt hat, dass es diese freie Bewegung der Menschen gibt. Die freie Bewegung zwischen Albanien und Kosovo wäre garantiert. Heute ist es unglaublich, dass Kosovo diese Situation nicht in seinem Interesse nutzen kann, sondern Konspirationstheorien in Bezug auf Open Balkan verbreitet. Der Weg ist bereitet. Open Balkan ist ein Mechanismus, um den ganzen Prozess zu beschleunigen. Es gibt keine Widersprüche.