„Wohnen ist ein Menschenrecht“

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Interview des Bundeskanzlers mit dem Straßenmagazin „Hempels“ „Wohnen ist ein Menschenrecht“

Sozialer Wohnungsbau, Bürgergeld, die Erhöhung des Kindergeldes – die Bundesregierung tut vieles, um Armut zu bekämpfen und Deutschland gerechter zu machen. Bei seiner Politik gehe es ihm stets um den Respekt für jede und jeden Einzelnen, betont Bundeskanzler Scholz in seinem Interview mit dem Straßenmagazin Hempels.

Portraitbild Bundeskanzler Scholz

Bundeskanzler Olaf Scholz

Foto: photothek.net/Köhler & Imo

Hempels: Wir leben in einer innen- und außenpolitisch bewegten Zeit. Welche Priorität hat für Sie als Bundeskanzler die Unterstützung hilfebedürftiger Menschen in Deutschland?

Olaf Scholz: Es geht mir immer um Respekt und um Zusammenhalt. Der russische Überfall auf die Ukraine und seine Folgen belasten uns alle. Klar ist, dass die Ukraine die schlimmsten Folgen des Krieges zu bewältigen hat – aber auch bei uns wirkt sich das Kriegsgeschehen aus. Da reicht ein Blick auf die Energie- und Lebensmittelpreise. Richtig ist aber: Unser Land ist bisher deutlich besser durch diese schwierige Zeit gekommen als viele befürchtet haben. Es hat keine tiefgreifende Wirtschaftskrise gegeben und die Energieversorgung steht. Warum? Die Bundesregierung hat sich entschlossen gegen die Krise gestemmt. Wir haben mehrere Hilfspakete geschnürt und wichtige Reformen auf den Weg gebracht. Wir haben den Mindestlohn auf 12 Euro angehoben, das Wohngeld ausgeweitet, die Sozialversicherungsbeiträge für Geringverdiener abgesenkt und Kindergeld und Kinderzuschlag auf jeweils 250 Euro verbessert. Keine Bundesregierung der vergangenen Jahrzehnte hat die Situation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit geringen Einkommen so stark verbessert wie die aktuelle Regierung. Das neue Bürgergeld hat die bisherige Grundsicherung für Arbeitssuchende abgelöst. Eine wichtige Reform.

Was fühlen Sie, wenn Sie einer um Almosen nachfragenden Person auf der Straße begegnen? Wie verhalten Sie sich?

Scholz: Wenn Bürgerinnen und Bürger in Not sind, berührt mich das – gerade in einem so reichen Land wie Deutschland. Es ist gut, dass es niedrigschwellige Angebote gibt, um aus schwierigen Lebenslagen herauszukommen. Aber nicht alle finden den Zugang zu dieser Hilfe, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Das müssen wir ändern. Und es ist gut, dass sich viele ehrenamtlich engagieren – zum Beispiel bei den Tafeln.

Kinder aus armen Familien haben ungleich schlechtere Entwicklungsperspektiven als Kinder der Mittelschicht. In Familien mit vererbbarem Vermögen kumuliert der Wohlstand über die Generationen. Diese Entwicklung kann unsere Gesellschaft spalten und hat das Potential die Demokratie zu gefährden. Wie bewerten Sie die Situation?

Scholz: Mit Kinderarmut dürfen wir uns nicht abfinden. Tun wir, wie gesagt, auch nicht. Gerade haben wir das Kindergeld auf einheitlich 250 Euro erhöht. Das ist die größte Kindergelderhöhung seit fast 30 Jahren. Dazu kommt der Kinderzuschlag für Familien mit geringem Einkommen, der ebenfalls auf maximal 250 Euro erhöht wurde. Außerdem erarbeiten wir gerade das Konzept einer Kindergrundsicherung. Sie wird dafür sorgen, dass Hilfen hier automatisch bei den Kindern ankommen – ohne viele Extra-Anträge der Eltern. Und wir bauen die Ganztagsbetreuung aus, auch damit Eltern arbeiten gehen können und Jungen und Mädchen gut gefördert werden, unabhängig vom Elternhaus.

Durch die Energiewende, die Digitalisierung und die aktuelle Preisentwicklung drohen Familien aus der Mittelschicht abzusteigen. Allein die Angst davor treibt Menschen an den Rand des demokratischen Spektrums. Was tun Sie dagegen?

Scholz: Die Zeiten sind nicht einfach. Viele Bürgerinnen und Bürger machen sich Sorgen. Ich teile aber die Prämisse ihrer Frage nicht. Gerade in den vergangenen Monaten hat sich doch gezeigt, dass trotz aller Ängste und Sorgen der Wut-Winter ausgeblieben ist und die Extremen keinen regen Zulauf erhalten haben. Das stimmt mich hoffnungsvoll. Denn es zeigt, dass die Bürgerinnen und Bürger anerkennen, dass wir mit Politik Probleme entschlossen angegangen sind. Innerhalb von acht Monaten haben wir Deutschland unabhängig gemacht von russischem Gas, russischem Öl und russischer Kohle. In Rekordzeit haben wir Flüssiggas-Terminals an den norddeutschen Küsten errichtet, abgeschaltete Kraftwerke wieder ans Netz gebracht und neue Lieferwege etabliert. Ich nenne das „Deutschland-Tempo“. Und dieses Tempo wollen wir jetzt beim Klimaschutz nutzen. In etwas mehr als 20 Jahren wird Deutschland komplett klimaneutral und weiter ein starkes Industrieland sein. Der Bau von Windkrafträdern auf See und an Land und von Solaranlagen muss beschleunigt, die Industrieproduktion zu großen Teilen auf Strom umgestellt werden, die Netze müssen ertüchtigt werden. Dafür sind riesige Investitionen nötig, die neues Wachstum erzeugen mit vielen gut bezahlten Arbeitsplätzen. Zugleich geht es darum, unsere Gesellschaft und unsere Demokratie krisenfest zu machen. Dafür ist es wichtig, jenen Kräften entgegenzuwirken, die alles dafür tun, um Teile der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen. Wenn wir uns zusammenhalten und uns unterhaken, haben Spaltung, Verschwörungserzählungen und Extremismus keine Chance.

Warum wurde von der neuen Bundesregierung nicht die Chance ergriffen, ein bedingungsloses Grundeinkommen zu schaffen? Das Bürgergeld unterscheidet sich vom gescheiterten Hartz-IV-Grundansatz "Fördern und Fordern" ja nicht.

Scholz: Das Bürgergeld unterscheidet sich an vielen Stellen vom bisherigen Arbeitslosengeld II – nicht nur, weil es mehr Geld gibt. Niemand ist davor gefeit, mal auf das Bürgergeld angewiesen zu sein. Dann geht es darum, dass die Gemeinschaft helfend zur Seite steht und keine Steine in den Weg gelegt werden. Und: Mit der zweiten Stufe des Bürgergelds, die zum 1. Juli startet, können sich Arbeitssuchende mehr auf Qualifizierung und Weiterbildung konzentrieren.

Asylsuchende, Flüchtlinge aus Erdbeben- oder Kriegsgebieten, Migranten aus dem EU-Raum konkurrieren mit örtlichen Hilfebedürftigen um Ressourcen. Setzen Sie mehr auf Gleichbehandlung dieser Gruppen oder setzen Sie Prioritäten?

Scholz: Da darf niemand gegeneinander ausgespielt werden. Das ist das Geschäft der Populisten, und dem treten wir ganz entschieden entgegen. Unser Ziel ist ein ausgewogenes Angebot an effektiven Unterstützungsleistungen für jene, die schon immer hier leben, genauso wie für die, die bei uns Schutz suchen.

In einer gemeinsamen Erklärung haben sich 2021 das EU-Parlament und die 27 Mitgliedsstaaten, also auch Deutschland, festgelegt, Obdachlosigkeit in der EU bis 2030 abzuschaffen. Da steht der Bund in der Pflicht, auch wenn die Länder einen großen Teil der Umsetzung stemmen müssen. Ist das Ziel noch realistisch?

Scholz: Absolut. Auch im Koalitionsvertrag haben wir uns dazu bekannt, die Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden. Denn: Wohnen ist ein Menschenrecht. Dafür brauchen wir mehr Wohnungsbau – gerade im sozialen Bereich.

Die Ampelkoalition hat sich zu Beginn der Legislatur zum Ziel gesetzt, jährlich 400.000 neue Wohnungen zu schaffen, davon 100.000 Sozialwohnungen. Inzwischen hat Bauministerin Klara Geywitz eingestanden, dass diese Zahlen weder für 2022 noch 2023 erreicht werden. Das Verbändebündnis „Soziales Wohnen“ geht von mehr als 700.000 fehlenden Wohnungen aus. Muss sich Deutschland auf Jahre großen Wohnungsmangels einstellen?

Scholz: Wir setzen uns ehrgeizige Ziele, und halten an ihnen fest, auch wenn das Bauen angesichts höherer Materialkosten und Fachkräftemangel gerade nicht einfacher geworden ist. Mit der Rekordsumme von 14,5 Milliarden Euro fördert die Bundesregierung bis 2026 den Bau neuer Sozialwohnungen. Und die Länder leisten auch noch ihren Beitrag.

Der Wohnungsbau stagniert, gleichzeitig steigt der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum. Was raten Sie jemandem, der aktuell bezahlbaren Wohnraum sucht?

Scholz: Wohnungssuche ist nicht einfach. Da gibt es kein Patentrezept. Wichtig zu wissen ist, dass das Wohngeld reformiert worden ist. Viel mehr Haushalte sind nun berechtigt, diese Unterstützung zu beziehen, statt 600.000 Haushalte sind es nun zwei Millionen. Es gibt außerdem ein höheres Wohngeld und die steigenden Heizkosten werden berücksichtigt. Das Bundesbauministerium hat einen Wohngeld-Rechner auf seiner Homepage, mit dem sich ermitteln lässt, ob man Wohngeld-berechtigt ist.

Laut einer Untersuchung der Bremer Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) sind materielle Ursachen ein Hauptgrund für Wohnungslosigkeit. 80 Prozent der Betroffenen haben ihre Wohnung verloren, weil sie die Miete nicht zahlen können. Warum gibt es noch keine Instrumente wie Mietsicherungsfonds?

Scholz: Die Bundesregierung tut viel, um Mieterinnen und Mieter zu unterstützen. Mit der Mietpreisbremse zum Beispiel in Gegenden, wo der Wohnungsmarkt besonders angespannt ist. Die massive Förderung des sozialen Wohnungsbaus habe ich bereits erwähnt. Damit greifen wir Ländern und den Kommunen unter die Arme. Mit den Energie-Preisbremsen wirken wir hohen Preisen für Gas- und Strom entgegen. Und wir haben die Bedingungen verbessert, mit denen sich eine Stromsperre abwenden lässt – mit früheren Informationen und längeren Zahlungszeiträumen.

Zehn Prozent der Menschen haben einen negativen Schufaeintrag. Wer mal die Miete oder seinen Handyvertrag nicht bezahlen konnte, hat kaum Aussicht eine neue Unterkunft zu finden. Und wer Sozialgeld bezieht oder mit Suchterkrankungen oder psychischen Problemen zu kämpfen hat, auch nicht. Solange Vermieter am Markt auswählen können, entscheiden sie sich für den solventeren Bewerber. Könnte kommunal bewirtschafteter Wohnraum eine Lösung für hilfebedürftige Wohnungssuchende sein? Vielleicht durch Enteignung von Wohnungsunternehmen?

Scholz: Durch Enteignungen entstehen keine neuen Wohnungen, im Gegenteil. Mieterinnen und Mieter müssen durch ein faires Mietrecht auch vor unfairen Preissteigerungen geschützt werden. Aber, die Illusion zu verbreiten, dass man es bei einer wachsenden Bevölkerung mit heute völlig veränderten Lebensverhältnissen schaffen könnte, ohne neuen Wohnungsbau die hohe Nachfrage zu decken, halte ich für unverantwortlich. Wenn wir wollen, dass weiter in den Wohnungsbau investiert wird, müssen alle auf verlässliche Rahmenbedingungen setzen können. Das erreicht man nicht durch Diskussionen über Enteignungen, sondern nur durch ein kooperatives Miteinander. Deshalb gibt es beispielsweise das „Bündnis für bezahlbaren Wohnraum“, bei dem alle Seiten an einem Tisch zusammensitzen und Lösungen diskutieren.

Hilfebedürftige Menschen gehen statistisch gesehen deutlich seltener zur Wahl. Nach einer Österreichischen Studie hat das auch damit zu tun, dass sie mit den staatlichen und kommunalen Einrichtungen mehr Reglementierung als Unterstützung verbinden. Welche Auswirkungen hat das auf die Priorisierung politischer Themen? Durch welche Maßnahmen kann man diese Entwicklung stoppen?

Scholz: Das Wahlrecht ist ein wesentliches Element unserer Demokratie. Auch Personen ohne festen Wohnsitz sind wahlberechtigt und können an Wahlen teilnehmen. Was in Ihrer Frage mitschwingt, geht aber wohl in eine andere Richtung. Der Kampf gegen Armut und Wohnungsnot ist ein Kernanliegen meiner Politik. Ich setze mich mit all meiner Kraft dafür ein, die Rahmenbedingungen in unserem Land zu verbessern. Ich bin froh, dass unser Grundgesetz in aller Deutlichkeit von einem sozialen Bundesstaat spricht. Die Bundesregierung ist dem Wohl des ganzen Landes, aller Bürgerinnen und Bürger verpflichtet und nicht nur denen, die wählen gehen. Und die Wohlfahrtsverbände sind eine starke Stimme für hilfsbedürftige Menschen.

Wird unsere Gesellschaft in zehn Jahren gerechter sein als heute?

Scholz: Meine Politik hat dieses Ziel. Mir geht es um den Respekt für jede und jeden Einzelnen, darum, dass unsere Gesellschaft zusammenhält, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinandergeht, dass wir die Gleichstellung der Geschlechter erreichen und dass niemand zurückgelassen wird.